Milner Donna
fortgeschickt, Mom«, sage ich und glaube, dass sie wieder einmal meine Gedanken gelesen hat.
»Nein, nicht River.« Ihr Atem geht mühsam. Jedes Wort hat seinen Preis. »Dich. Dich hätte ich niemals fortgehen lassen dürfen.«
»Es ist schon gut, Mom«, beruhige ich sie. »Ich hätte nicht in Atwood bleiben können.« Das sind nicht nur Worte. Das ist die Wahrheit.
»Ich habe nicht gewusst, was ich mit deinem Kummer anfangen sollte«, sagt sie jetzt. »Er war einfach übermächtig. Du und Boyer, ihr beide habt so sehr gelitten.«
Ein Gefühl drängt plötzlich an die Oberfläche. Ich erinnere mich an den Groll, den ich an jenem Morgen empfand, als ich durch die Tür ging und meine Mutter, den Rücken mir zugekehrt, am Küchentisch stand. Ich dachte, sie wüsste es! Sie wusste doch alles andere auch. Warum wusste sie nichts über meinen Schmerz? So erfolgreich hatte ich also das Grauen verborgen und die Schuld.
»Es war das Richtige, Mom. Die richtige Entscheidung. Hier hätte ich nicht überlebt.«
»Es tut mir leid, dass ich keine bessere Mutter war«, sagt sie jetzt.
Es gibt mir einen Stich. »Du bist immer eine gute Mutter gewesen. Die beste. Für uns alle.«
Ihre Hand entspannt sich in meiner; ich glaube, dass sie eingeschlafen ist, bis sie mich fragt: »Hast du Boyer gesehen?«
»Nein, noch nicht.«
Ihr Atem geht ruhiger, aber plötzlich wispert sie: »Wirst du deinem Bruder jemals verzeihen, Natalie?«
»Ihm verzeihen, was denn?«, frage ich, aber sie hört es nicht. Meine Mutter schläft.
Ich sitze an ihrem Bett und wundere mich über das Gefühl der Erleichterung, das mich allein bei dem Gedanken durchströmt, mit dieser Gegenfrage herausgeplatzt zu sein. War ich wirklich im Begriff, ihr zu erzählen, dass ich es bin, der verziehen werden muss? Dass ich meinem Bruder nicht ins Gesicht sehen kann, ohne mich daran zu erinnern, dass ich für seine Narben verantwortlich bin? Ich lege den Kopf neben die Hand meiner Mutter. Ihre Finger streicheln im Schlaf über mein Haar.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, als ich aufblicke und auf der anderen Seite von Moms Bett Jenny sitzen sehe. »Onkel Boyer ist gerade da gewesen«, flüstert sie mir zu. »Er hat dich nicht stören wollen. Er ist jetzt auf dem Weg zum Flugplatz. Sie sind in ungefähr zwei Stunden da. Willst du nicht, solange Grammie schläft, auf dein Zimmer gehen und dich duschen und umziehen, bevor alle eintreffen?«
Ich nicke, bleibe aber noch ein paar Augenblicke sitzen, um Moms schlafendes Gesicht zu betrachten.
Dies ist ein Gesicht des Todes, gestehe ich mir ein. Durch die Haut, die sich über ihre hohen Wangenknochen spannt, schimmert die Skelettstruktur ihres Schädels.
Etwas hält sie zurück und verleiht ihr Kraft. Sie muss noch etwas erledigen. Das muss ich auch.
49
B IST DU DIR WIRKLICH SICHER?«, fragt Jenny, als der Edsel in die Colbur Street einbiegt.
»Nein«, antworte ich mit zittriger Stimme. »Aber alles, was ich über Vergewaltigungsopfer gelesen habe, läuft darauf hinaus, dass der Heilungsprozess in dem Moment einsetzt, in dem man seinem Schänder ins Auge sieht.«
Opfer?
»Weißt du«, sage ich zu ihr, als sie vor Gerald Ryans Haus anhält, »ich habe so viele Jahre damit verbracht, zu leugnen und mich dagegen zu wehren, sein Opfer zu sein, dass ich genau das geworden bin. Heute habe ich es zum ersten Mal laut ausgesprochen.«
In ihrer Küche habe ich Jenny heute früh alles über jene Nacht in der Kiesgrube erzählt.
Jenny hörte kommentarlos zu, aber es war ihr anzusehen, dass sie meine Beklemmung nachempfand. Dann hielten wir uns in den Armen, bis die Tränen versiegten.
Schließlich fragte sie ruhig: »Mom, warum bist du dir eigentlich so sicher, dass das Baby von Gerald Ryan war? Wenn du ein paar Nächte davor mit River zusammen warst, könnte er dann nicht der Vater sein?«
Und da war er, der Riss in der felsenfesten Überzeugung, an die ich mich über all diese Jahre geklammert hatte. »Ich bin mir immer so sicher gewesen«, seufzte ich. »Vielleicht war das meine Art, damit zurechtzukommen. Vielleicht war es einfach weniger schmerzlich, sich damit abzufinden, dass ein tot geborenes Baby die Folge einer Vergewaltigung war, als auch nur in Betracht zu ziehen, dass es Rivers Sohn hätte sein können.«
Jenny stellt den Motor ab, und ich zwinge mich, an dem alten Haus der Ryans hochzublicken. Der einst gepflegte Garten ist von Unkraut überwuchert. Das Geländer auf der durchhängenden
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