Milner Donna
Dämonen ich nach all diesen Jahren hier vorzufinden glaubte. Hier ist nichts, nichts Böses, was im Dunkeln lauert. Keine Phantome der Vergangenheit erwarten mich. Die Kiesgrube, die mich über all diese Jahre verfolgt hat, existiert nicht mehr. An ihrer Stelle erhebt sich jetzt dieses schöne Haus aus Zedernholz und Stein.
Licht fällt aus dem Erkerfenster, als ich die Verandastufen aus Granit hinaufsteige. Ich strecke die Hand aus, um anzuklopfen, und dränge die Gedanken zurück, die sich immer noch Bahn brechen wollen. Die Kiesgrube mag verschwunden sein, nicht aber die Erinnerung und das finstere Geheimnis.
In ein paar Stunden werde ich den Folgen dieser grauenhaften Nacht ins Auge blicken müssen. Und am Ende wird auch der junge Mann die Wahrheit seiner Existenz erfahren. Wie kann ich ihm sagen, dass er – »mein Sohn« – die Frucht einer Vergewaltigung ist?
Drinnen höre ich Schritte. Die Tür fliegt auf. Und Jenny streckt mir die Arme entgegen.
48
D IE K RANKENHAUSGÄNGE sind in herbstlichen Farben geschmückt. Bilder von Truthähnen, Kürbissen und Vogelscheuchen bedecken die Wände des dritten Stocks von St. Helena’s. Es könnte der Korridor einer Grundschule sein. Bis auf die Gerüche.
Vor der Treppenhaustür bewegt eine weißhaarige Frau, über eine Gehhilfe gekrümmt, quälend langsam einen Fuß nach dem anderen. Auf der anderen Seite zieht sich ein Mann im Rollstuhl mit seiner gesunden Hand rückwärts am Geländer entlang, wobei er sich resolut immer wieder mit dem Fuß abstößt.
Immer noch in meinen Joggingsachen, warte ich geduldig, bis sich dieser Verkehrsstau auflöst. Seit der rückhaltlosen Offenbarung gegenüber Jenny bin ich von einer unverhofften Ruhe erfüllt. Auf dem Weg zum Zimmer meiner Mutter fühlen sich selbst meine Schritte leichter an.
Die Vorhänge sind aufgezogen, das Morgenlicht flutet in ihr Zimmer. Mom ruht hochgelagert in ihrem Bett, die Augen geschlossen, der Mund halb geöffnet. Auch wenn Jenny mir gesagt hat, dass Mom jetzt nur noch sechsunddreißig Kilo wiegt, überrascht mich die Zerbrechlichkeit ihres Körpers. Ihre dünnen Arme sind nur noch Haut und Knochen. »Bis auf die Lebensgeister ist nicht mehr viel übrig«, hatte Jenny gesagt. »Aber das macht schon viel aus.«
Ich stehe an der Tür und blicke so lange auf Moms Brust unter dem weißen Laken, bis ich mir sicher bin, dass sie atmet.
Sobald ich mich nähere, springen ihre Lider auf, und ihr Blick huscht durch das Zimmer. »Ist er da?«, fragt sie, als sie mich sieht.
Seinetwegen hat sie das Sterben aufgeschoben! Ich kann die Dringlichkeit in ihrer Stimme hören.
»Bald, Mom«, sage ich und beuge mich zu ihr, um ihr einen Kuss zu geben, »er wird bald hier sein.«
»Ich habe ihn weinen hören«, flüstert sie. »In der Nacht, als er geboren wurde, habe ich …«
»Es ist schon gut, Mom«, sage ich, nehme ihre Hand in meine und drücke sie an meine Lippen. »Es ist gut.«
Sie sieht mich direkt an. »Es tut mir leid, Natalie. Ich habe ihn … gehört.« Ihre Stimme gewinnt an Kraft. »Ich hätte … sollen … Hätte darauf bestehen sollen, ihn zu sehen. Ich bin weggegangen … Ich hätte es wissen müssen.« Ihre Augen bemühen sich, meinen Blick festzuhalten. »Bitte verzeih mir.«
»Da gibt es nichts zu verzeihen. Wir alle haben das, was Dr. Mumford uns gesagt hat, geglaubt – glauben wollen …« Das Pumpen des Sauerstoffbehälters füllt die Pausen zwischen unseren Worten. Ich spüre die federleichte Berührung ihrer Finger auf meiner Wange, bevor sie ihre Hand sinken lässt und ihre Lider sich wieder schließen. Ich sitze neben dem Bett und streichle ihr über die Stirn, während ich im Gleichtakt mit ihr atme.
Als ich ihr eine graue Strähne sanft hinter das Ohr schiebe, flattern ihre Lider wieder auf. »Er kommt zu uns zurück«, gelingt es ihr zu flüstern. »Jetzt wird alles gut.«
Ein Retter. Das ist es, was sie in ihrem Enkel sieht. Sie sieht ihn als jemanden, der diese Familie wieder zusammenbringen wird. Für sie ist er der wiedererstandene River.
Und ich will ihr das nicht nehmen. Die Rede, die ich auf dem Rückweg von Jenny einstudiert habe, kann ich getrost vergessen. Es ist zu spät, sie mit meinen düsteren Erinnerungen und Geheimnissen zu belasten. Ich werde dafür sorgen, dass meine Mutter diese Welt in dem Glauben verlässt, dass ihr Enkel Rivers Kind ist.
»Ich hätte … niemals … fortschicken sollen«, murmelt sie.
»Wir alle haben River
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