Milner Donna
er kommt, Mom«, sagt sie. »Morgen Nachmittag wird er hier sein.«
45
S IE KAMEN ZU ZWEIT. Nettie hörte ihre zögernden Schritte. Ihre Schuhe schlurften über den gefliesten Krankenhausboden. Sie traten so dicht nebeneinander in ihr Zimmer, dass sie wie ein einziger finsterer Bote mit zwei Köpfen aussahen.
Sie sind gekommen, um mich zu betrauern, dachte Nettie. Sie war jetzt seit einer Woche wieder im Krankenhaus. Die Aufenthalte werden länger. Dieser wird der letzte sein.
Aber heute war ein guter Tag.
Boyer stand am oberen Ende ihres Bettes, das er so eingestellt hatte, wie es für sie am bequemsten war. Nettie lag da und beobachtete, wie ihre beiden Besucher sich dem Bettende näherten. Einen Moment stellte sie sich die beiden, pechschwarz gekleidet, als zwei alte Raben vor, die über dem Geländer am Fußende schwebten.
Das Alter hatte Dr. Mumford nicht niedergebeugt. Mit fünfundachtzig hielt er sich immer noch kerzengerade, doch bevor er seine Hände um die Metallstange legte, sah sie, dass sie leicht zitterten.
Sie blickte von ihm zu Father Mac. Die Jahre waren mit dem Priester nicht so glimpflich umgegangen. Sein geschrumpfter Körper verschwand in der Masse seines Wollmantels. Sein Hals versank im Kollar.
Die Begrüßungen waren kurz. Nettie war erleichtert, dass ihre Besucher nicht fragten, wie es ihr ging. Sie wussten es. Die beiden alten Freunde waren nicht gewillt, Zeit mit höflichen Lügen und beruhigenden Worten zu verschwenden.
Der Priester ergriff als Erster das Wort. Das Timbre seiner Stimme strafte seinen zusammengefallenen Körper Lügen. Father Mac legte einen Arm auf Dr. Mumfords Schulter. »Allen hat Ihnen etwas mitzuteilen, Nettie.«
Sie sah, wie der Arzt sich sträubte, als der Priester ihn vorwärtsschubste, aber dann ging er doch an die Seite des Bettes und blieb neben Boyer stehen.
Er nahm Netties Hand und wandte sich dann an Boyer: »Könnten wir bitte einen Moment für uns haben?«
»Es ist schon gut, Allen«, sagte Nettie. Sie konzentrierte sich darauf, aus dem Sauerstoffschlauch, der in ihrer Nase steckte, Luft zu holen, und fuhr dann fort: »Alles, was du mir zu sagen hast, kann auch mein Sohn hören.«
»Nettie«, begann Dr. Mumford, aber die Stimme versagte ihm. Irgendetwas schien in ihm zu zerbröckeln. Er ließ die Schultern hängen. Boyer zog einen Stuhl zum Bett, und der Doktor ließ sich darauf fallen. »Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll. Vor Jahren … Natalies Baby …«
Netties Herz schlug schneller, während sich ein Strom von Worten über die Lippen des Arztes ergoss. Sie hörte schweigend zu, wie er ihr beichtete, dass er in der Nacht, als sie Natalie zu ihm brachte, Gott gespielt hatte.
Wie er sie angelogen hatte, dass das Kind nicht gelebt habe. »Es gab eine Familie, die auf das Baby wartete – auf Ruth’ Baby –, es war so einfach«, sagte er, »so einfach. Ich habe damals geglaubt, das Richtige zu tun.«
»Ich habe das Baby gehört«, flüsterte sie.
Und sie erinnerte sich an den Laut, der hinter den Türen des Kreißsaals hervorgedrungen war. Das leise Wimmern des Kleinen, der, wie sie sich später hatte überzeugen lassen, Ruth’ Kind war. Aber als der Arzt an ihrer Seite schluchzend bereute, fiel es ihr ein. Sie hatte bei diesem Wimmern ein überwältigendes Ziehen gespürt, genau wie bei der Geburt jedes ihrer eigenen Kinder. Die Erinnerung stieg an die Oberfläche, obgleich sie sie so tief vergraben hatte, um niemals der Wahrheit ins Auge sehen zu müssen.
Sie suchte die Augen des Priesters. Sie hatte diese eine Sünde niemals gebeichtet, hatte aber ihr Leben lang Buße dafür getan, dass sie Natalies Baby zum Fegefeuer verurteilt hatte. »Das Baby …?«, fragte sie zwischen angestrengten Atemzügen. »Ist Ruth’ Baby mit den Tröstungen der Kirche versehen worden?«
Als der Priester nickte, schloss Nettie die Augen und fühlte, wie ihr ein Stein vom Herzen fiel.
Sie schlug die Augen wieder auf, als Boyer fragte: »Und Natalies Kind? Wo ist Natalies Baby hingekommen?«
»Das Krankenhaus hat die Unterlagen für die Adoption nicht aufbewahrt«, erklärte Dr. Mumford. »Das war Sache von Our Lady of Compassion und der Kirche.«
Netties Blick wanderte zu Father Mac.
»Es tut mir leid«, sagte der Priester. »Diese Information kann ich Ihnen nicht geben. Adoptionsdokumente werden vertraulich behandelt. Aber«, fuhr er bedächtig und gemessen fort, »wir haben eine schriftliche Anfrage von einer Detektei erhalten,
Weitere Kostenlose Bücher