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Milner Donna

Milner Donna

Titel: Milner Donna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: River
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die gesichtslosen Bilder eines Sohnes zurück, über den ich wider Willen nachdenke. Jenny sagte, er würde von Vancouver hierherfliegen. Ist er dort aufgewachsen? Bin ich je an ihm vorbeigegangen? Wer hat ihn adoptiert? War er glücklich? Wem sieht er ähnlich? Und hat er sich je Gedanken über seine Mutter gemacht?
    Ich träume von Raben. Der Traum ist so real, dass ich mir sicher bin, wach zu sein. Ich stehe in der Lichtung am See hinter unserem Farmhaus. Diesen Ort habe ich in meinen Träumen viele Male aufgesucht. Und jedes Mal frage ich mich, wie ich dorthin gelangt bin. Kennen meine Füße einen magischen Weg, der aus meinem Bewusstsein getilgt ist?
    Vor mir breitet sich über die Wiese und am Ufer entlang ein Teppich schwarz gefiederter Vögel aus. Dicht an dicht sitzen sie auf den Bäumen und blicken vom moosüberwachsenen Dach von Boyers Hütte auf mich herunter. Tausende ebenholzfarbener Augen beobachten mich, als ich losmarschiere. Sie fliegen auf, während ich mich nähere, und geben mir den Weg zur Hütte frei.
    Der Wald hat die ausgebrannte Ruine fast ganz zurückerobert. Verschlungene Ranken vom wilden Wein kriechen an den verkohlten Balken empor. Meine Füße tragen mich lautlos zur Tür. Sie sieht so solide aus. Was wird geschehen, wenn ich durch die Ranken greife und sie aufstoße? Werde ich dort seinen Geist antreffen – bereit zu Anklagen, Erklärungen, Vergebung?
    Meine Hand findet den eisernen Riegel. Als sie das kalte Metall berührt, zerfällt alles zu Staub.
    Am nächsten Morgen jogge ich durch die noch leeren Straßen von Atwood.
    Als ich die Main Street erreiche, erinnere ich mich fröstelnd an den Traum der letzten Nacht und an das Gesicht, das sich aus dem Staub der zerfallenden Hütte erhob. Es war nicht Rivers Gesicht, sondern das narbenbedeckte ernste Gesicht von Boyer.
    Mit siebzehn hatte ich in Vancouver angefangen, jeden Tag zu joggen. Zuerst war es ein Vorwand, um aus dem Haus zu entwischen. Dann wurde es zur Lebensgewohnheit, um davonzulaufen vor Schuld und Scham, vor Erinnerungen und Geheimnissen.
    Doch an diesem Morgen laufe ich auf etwas zu. Anders als im Traum der letzten Nacht weiß ich genau, was ich tun muss.
    Als ich den Stadtrand erreiche, dringen Scheinwerfer durch den sich lichtenden Nebel. Ich laufe mit gestrafften Schultern weiter, bis das Auto vorbeigefahren ist. An der Highwaykreuzung widerstehe ich dem Impuls, mich nach Norden zu wenden, wie ich es gewohnt bin. Ich hole tief Luft und biege nach Süden ein, Richtung Grenze.
    Diese Gegend heißt jetzt Eaglewood. Der Name, geschnitzt in einen Zedernbalken, kündet von seiner Existenz. Der alte Kiesweg ist asphaltiert worden. Straßenlaternen beleuchten Gehsteige und Zufahrtswege. Ich biege vom Highway ab und laufe in die menschenleeren Straßen der Wohnsiedlung.
    Zwischen den Bäumen sehe ich die Silhouetten von Fachwerkhäusern und Chalets im Schweizer Stil. Dieses Baugebiet, das aus Parzellen von einem oder einem halben Hektar besteht, haben Boyer und sein Lebensgefährte Stanley Atwood aus dem Farmgelände herausgelöst. Jenny zufolge sind die Besitzer der meisten Grundstücke Amerikaner, die unser kleines Paradies hier in den Cascade Mountains entdeckt haben. Ich frage mich, ob eines dieser Häuser den Männern gehört, die nach dem Ende des Vietnamkriegs begnadigt wurden, in die Vereinigten Staaten zurückkehrten und Banker und Börsenmakler wurden. Ich bin mir jedenfalls sicher, dass die Eigentümer nicht zu jenen letzten Hippies gehören, die in Kanada geblieben sind, wo sie als Farmer, Ladenbesitzer und Künstler heimisch wurden.
    Ich laufe weiter, vorbei an Zufahrten, Höfen, Zierteichen und dunklen Häusern, die zurückgesetzt zwischen den Bäumen stehen. Ich biege um eine Ecke und bin da.
    Obwohl jetzt alles anders ist, erkenne ich diesen Ort wieder. Am Beginn einer breiten Sackgasse verlangsame ich meine Schritte. Drüben führt von der Mitte des kreisförmig angelegten Platzes eine Allee zu einem neuen Bau mit viel Holz und Glas.
    Eine Windböe wirbelt Herbstblätter von den Bäumen hinein in die Zufahrt, die einst zur Kiesgrube führte.
    Ich hole tief Atem und gehe los. Ich bin entschlossen, die Angst dadurch zu besiegen, dass ich ihr ins Auge sehe. Ich konzentriere mich auf die brennende Verandalampe am Ende der Zufahrt.
    Obwohl ich nicht mehr laufe, rast mein Herz, und dann bin ich da. Ich habe es geschafft. Ich stehe am Fuß der Treppe und blicke an dem Haus hinauf.
    Ich weiß nicht, welche

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