Milner Donna
Veranda ist kaputt; der Hausanstrich weist Risse auf und blättert ab. Heute Morgen hat Jenny mir bestätigt, dass nach ihrem Kenntnisstand in diesem vernachlässigten Haus immer noch ein kränkelnder Gerald Ryan wohnt.
Jenny legt die Hand auf meine Schulter. »Möchtest du, dass ich mitkomme?«
»Nein, das muss ich allein durchstehen.«
»In Ordnung. Aber vergiss nicht, dass er infolge seiner Alkoholsucht unter Demenz leidet. Er wird dich wahrscheinlich gar nicht erkennen.«
»Das macht nichts. Hauptsache, ich erkenne ihn.«
Bevor ich aussteige, sagt Jenny: »Da ist noch etwas, Mom.«
Sie zögert, als wäre sie sich über das, was sie mir eröffnen möchte, nicht ganz sicher. »Du dürftest nicht die Einzige gewesen sein«, erklärt sie schließlich.
Auf dem Weg zur Veranda weigere ich mich, meinen Blick zum Kellerfenster hinunterwandern zu lassen. Es kostet mich alle Reserven, über die ich verfüge, bis zur Tür zu gehen und meine zitternde Hand zu heben. Ich hämmere gegen die Tür, bevor ich es mir anders überlegen kann.
Minuten vergehen, bis ich ein leises Schlurfen höre. Ich trete einen Schritt zurück, als sich die Tür zu öffnen beginnt und in dem engen Spalt ein Auge erscheint. Es blickt an mir auf und ab, blinzelt heftig, und dann geht die Tür ganz auf und gibt den Blick frei auf eine aufgedunsene Frau im rosafarbenen Nickianzug.
Plötzlich erkenne ich etwas hinter dem verdutzten Blick. »Elizabeth-Ann?«
Sie kneift die Augen zusammen. »Natalie Ward«, sagt sie schließlich und zieht die Nickijacke fester um ihren Körper.
»Ich habe nicht erwartet …«, stammle ich.
Von irgendwoher ruft die schwache Stimme eines Mannes: »Elizabeth-Ann?«
Elizabeth-Ann geht rückwärts in den Vorraum, während ich mich an ihr vorbei auf die entsetzlich bekannte Stimme zu bewege.
»Elizabeth-Ann?« In der wiederholten Frage schwingt ein drängender Unterton mit. Und dann sehe ich die Gestalt vor dem Fernsehgerät im Wohnzimmer sitzen. Wie ein verängstigtes Tier bleibe ich stehen, hypnotisiert von den rosageränderten Augen, Nageraugen, die schauen, aber nicht auf seine Tochter, sondern auf mich.
Neben mir lehnt sich Elizabeth-Ann gegen die Tür, die zum Wohnzimmer führt. »Er hält jeden für Elizabeth-Ann«, sagt sie. »Jeden, bis auf mich.«
Ich kann meinen Blick nicht von den erbarmungswürdigen Überbleibseln jenes Mannes wenden, der einmal mein Peiniger war.
»Elizabeth-Ann?«, fleht er. Vorquellende Augen schauen durch mich hindurch, aber sie sehen nichts. Es gibt nichts hinter diesen Augen, niemanden, der noch zu hassen wäre.
Ich wende mich ab. Der weinerliche Ruf folgt mir auf meinem Rückzug. An der Eingangstür bleibe ich abrupt stehen. Ich durchquere noch einmal den Vorraum. Im Wohnzimmer starre ich hinunter auf die Erscheinung. »Ich bin nicht Elizabeth-Ann«, sage ich mit erstaunlich ruhiger Stimme. »Ich bin Natalie Ward. Erinnern Sie sich an mich, Mr. Ryan? Herr Bürgermeister? Ich bin die Tochter vom Milchmann. Ich bin das Mädchen, das Sie vor fünfunddreißig Jahren in der Kiesgrube vergewaltigt haben.«
Ich höre, wie hinter mir Elizabeth-Ann nach Luft schnappt, aber in den milchigen Augen des Mannes blitzt kein Fünkchen des Verstehens auf.
Ich wende mich ab, aufgewühlt und schwach, aber irgendwie befreit. Wie die alte Kiesgrube beginnt nun auch die Angst, mit der ich gelebt habe und vor der ich so lange davongelaufen bin, zu schwinden.
Elizabeth-Ann folgt mir zur Haustür. »Du auch?«, sagt sie mit matter Stimme. »Das hätte ich wissen sollen. Es tut mir leid.«
Draußen auf der Veranda drehe ich mich um und blicke ihr forschend ins Gesicht. »Nach alledem, was er dir angetan hat«, frage ich, »warum kümmerst du dich noch um ihn?«
Ihr Gesicht ist ausdruckslos, als sie antwortet: »Er ist mein Vater.«
50
J ENNY UND ICH EILEN den schmalen Flur des Alpine Inn entlang. »Ich kann nicht glauben, dass ich geschlafen habe«, sage ich, während wir die Treppen hinunterlaufen.
»Du hast es gebraucht.« Jenny drängt durch die Eingangstür hinaus an die Herbstsonne.
Mir ist, als würde die Welt rotieren. Alles geschieht so schnell. Als ich nach meiner Konfrontation mit Mr. Ryan in mein Pensionszimmer zurückkehrte, war ich völlig ausgelaugt. Aber ich spürte bereits die heilende Wirkung des Loslassens. Ich duschte, zog mich um und legte mich für einen Augenblick aufs Bett. Es war drei Uhr, als Jennys Klopfen mich weckte.
»Sie sind hier«, sagte sie atemlos,
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