Milner Donna
fliegen«, lautete Gavins schlichte Reaktion auf diese Eröffnung.
Es wundert mich nicht, dass Boyer über all diese Jahre die Verbindung mit Rivers Mutter gehalten hat. Ich kann mir vorstellen, wie sehr sich auch ihr Leben angesichts dieses unverhofften Geschenks ändern wird.
Gestern saßen Gavin und ich bei Mom, bis Morgan kam und uns ablöste. Dann haben wir noch vor Verns Ankunft einen Spaziergang gemacht. Zitterpappelblätter wirbelten um uns herum, als wir an dem Scherengitterzaun hinter dem Feld haltmachten. Wir sahen uns um, und ich winkte in Richtung Haus für den Fall, dass Mom wach war und uns nachblickte.
»Es ist so schön hier«, sagte Gavin, als wir zur Lichtung am See kamen. Ich versuchte, diese Landschaft mit seinen Augen und nicht durch den Filter der Erinnerung zu sehen. Eine dünne Eisschicht überzieht den See. Und der Wald ist weiter auf die grasbewachsene Stelle zugerückt, auf der Boyers Haus gestanden hat.
Jetzt gibt es keine Spur mehr von der alten Hütte. Ein neuer Apfelbaum steht an der Stelle des alten, der in jener Nacht wie eine Fackel brannte. Auch er ist knorrig und vom Alter gekrümmt. Ein paar Äpfel hängen noch an den Zweigen, und auf dem Boden liegen faulende Früchte und erfüllen die kühle Herbstluft mit süßlichem Geruch.
Im morgendlichen Sonnenschein zog ich Rivers Tagebuch aus meiner Jacke.
Zuvor hatte ich es, zusammen mit der Gedichtemappe, zu Boyer mitgenommen. Er saß an seinem Schreibtisch in der Dachkammer. Ich klopfte an die offene Tür.
Als er sich zu mir umwandte, hielt ich den Ordner hoch. »Stanley hat mich dies lesen lassen«, sagte ich. »Sie sind unglaublich. Sie sollten wirklich veröffentlicht werden. Darf ich sie meinem Verleger zeigen?«
Boyer lächelte und nahm mir den Ordner aus der ausgestreckten Hand. »Ach, ich denke, ein Schriftsteller in der Familie genügt.«
»Ich bin bloß eine Reporterin«, sagte ich, »aber dies hier sind die Worte eines Schriftstellers.«
Ehe Boyer etwas sagen konnte, hielt ich ihm das Tagebuch hin. »Und dieses hier auch«, sagte ich. »Ich habe es in dem Zimmer über der Molkerei gefunden. Es ist Rivers letztes Tagebuch. Ich meine, du solltest es lesen. Seine Worte erklären, was ich dir über jene Nacht hätte sagen sollen, in der er und ich zusammen waren.«
»Natalie.« Boyers Stimme klingt sanft, während er die Schublade aufzieht und den Ordner darin verstaut. »Ich brauche es nicht zu lesen. Ich bin vor langer Zeit damit ins Reine gekommen. Das Problem war, dass wir alle River für vollkommen gehalten haben. Aber er war auch nur ein Mensch mit Fehlern und Schwächen. Ich habe ihm und mir vor einem ganzen Leben schon verziehen. Gib das Tagebuch Gavin. Es wird ihm helfen zu verstehen, wer sein Vater war.«
Ich zögerte. »Ja, das habe ich vor, aber ich frage mich trotzdem, ob er das wirklich alles wissen muss.«
»Wenn ich etwas gelernt habe«, erwiderte Boyer, »dann, dass Geheimnisse mehr Schaden anrichten als die Wahrheit. Gib es ihm, Natalie. Er wird verstehen. Er kann damit umgehen.«
»Ja«, sagte ich. »Du hast recht.«
»Er ist ein wunderbarer junger Mann«, rief Boyer hinter mir her, als ich schon auf der Treppe stand.
»Nicht wahr? Und er sieht Dad und Morgan so ähnlich.«
»Nein, Natalie«, entgegnete Boyer. »Er sieht so aus wie du.«
»Das hier ist für dich«, sagte ich am Seeufer, als ich Gavin das Tagebuch überreichte. »Es hat deinem Vater gehört.«
Die Seiten würden ihm mehr über seinen Vater verraten, als irgendjemand von uns das je könnte. Alles steht darin, mit Rivers eigenen Worten: Woran er glaubte, wovon er träumte, wofür er Opfer brachte und wen er liebte. Und das alles mit der Aufrichtigkeit, die für River so typisch war.
Gavin nahm das Tagebuch an sich und zog das Foto heraus.
»Das ist dein Vater«, sagte ich.
Er faltete die alte Schwarz-Weiß-Aufnahme vorsichtig auf. »Welcher von den beiden?«
Ich schaute auf die zwei schönen Gesichter. Ich hatte ganz vergessen, wie sehr sie sich ähnelten.
Gestern Nacht, mit Vern an meiner Seite, fiel mir das Einschlafen leichter. Er kam noch vor zwölf Uhr an, weil er ohne Halt durchgefahren war. Rechtzeitig genug, um Gavin und seine Familie noch zu sehen.
Neben mir bewegt sich Vern im Schlaf und rückt näher an mich heran. Gestern, am Nachmittag, führte ich ihn zu meiner Mutter. Ich dachte, sie würde schlafen, aber sie schlug die Augen auf, als ich Vern leise mit Carl bekannt machte, der an ihrem Bett saß.
»Mom,
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