Mimikry
Bisexueller.«
»Bitte was?«
»Können wir den Hilmar mal fragen. Na ja, das ist mir eingefallen, wie Frieds Nachbar einen Lederkerl beschrieben hat, mit dem Fried im Hausflur ziemlich intensiv gequasselt hat.«
»Hilmar«, sagte Pagelsdorf. »Das ist der Nachbar Bischofs, oder?«
Sie nickte. »Lederkerl. Na ja, so kam er mir vor.« Sie fing an, ein Strichmännchen zu malen. »Wenn wir jetzt davon ausgehen, daß es Durchgeknallte gibt, die sich für Talkshowgäste interessieren oder so –«
»Ja?« Pagelsdorf setzte sich auf den Besucherstuhl. »Bitte, ich höre.«
»Also, da sucht sich einer Leute aus Talkshows, die solches Zeug erzählen, ihre ganze Einsamkeit rausplärren, was weiß ich. Wenn sie’s nicht mehr aushalten, nehmen die vielleicht jeden. Sind schon für ein Lächeln dankbar. Für so einen sind die doch leicht zu haben, oder? Da kommt einer und sucht sich gezielt solche Leute aus –«
»Warum?« fragte Pagelsdorf.
»Weiß nicht, warum.« Sie sah ihn an. »Wenn man das immer wüßte, wär’s gut.«
»Ach Gott, nein«, rief Stocker. »Ein Bisexueller also, weil wir ein weibliches und ein männliches Opfer haben? Welchen Nutzen hat er? Es war weder ein Raub- noch ein Sexualdelikt. Und ein Herr Fried ist dann so dankbar für ein Lächeln, daß er sogar einen Mann erhört – das ist, ehm, ein bißchen weit gedacht.«
»Ja, dann überlegen Sie sich doch selber was.« Ina Henkel klappte ihr Notizbuch zu und holte einen Schokoriegel aus der Tasche. »Wahrscheinlich müssen wir eh mit Aushängen raus, macht dann wieder einen Supereindruck.«
»Und ich werde in XY auftreten«, sagte Stocker. »Habe ich auch meine Talkshow.« Er streckte die Hand aus.
»Dann üben Sie aber vorher das freie Sprechen, ja?« Sie brach ihm ein Stück Schokolade ab und reichte es herüber. »Wenn die da immer so stocksteif sitzen und ihr Zeug runterleiern, schäme ich mich zu Tode – hier.« Sie zog einen Ausweis unter ihren Papieren hervor. »Sogar bei denen haben wir uns erkundigt. Natürlich sinnlos.«
»Was ist das?« fragte Pagelsdorf.
»Frieds Organspendeausweis.« Sie warf den Rest ihres Schokoriegels auf den Tisch. »War dann ja nichts, ich meine, mit den Organen, nicht? Konnte man nicht mehr unbedingt –«
Pagelsdorf sah sie an. Sie ballte die Finger und drehte den Kopf weg.
Stocker lachte. »Mir hat letztens ein Schupo erzählt, daß er niemals Organe spenden würde, von wegen heil in den Himmel, lieber Himmel, ich krieg das gar nicht mehr zusammen.«
»Meine Mutter hatte Totaloperation«, sagte sie. »Kommt die jetzt nicht in den Himmel?«
» Sie wollten sich ja eh verbrennen lassen.«
»Ja, damit ich im Sarg nicht wieder aufwache. Das weiß man ja nicht.«
»Ach, hören Sie auf.« Pagelsdorf richtete seine Krawatte und ging zur Tür. »In Ihrem Alter über so etwas nachzudenken.«
»Über was?«
»Na, über den Tod, ich bitte Sie.«
»Über was soll ich denn sonst nachdenken hier? Können Sie mir das mal sagen?«
Pagelsdorf lächelte. »Kürzlich habe ich irgendwo gelesen: Nimm das Leben nicht so ernst, es ist ja nicht von Dauer. «
»Ich hab auch einen netten.« Sie nahm ihre Teekanne. » Praktisch denken, Särge schenken. «
»Jo, der ist gut«, sagte Stocker. » Manche haben zu leben früher aufgehört als angefangen. Seneca. «
»Nett«, sagte sie. Pagelsdorf stand draußen, als sie in die Küche kam, hatte seine Aktenordner zwischen die Knie geklemmt.
»Was ist denn noch?« fragte sie.
»Nun, ich suche –« Er griff in seine linke Brusttasche, dann in die rechte und zog eine Visitenkarte hervor. »Sehen Sie mal, das wollte ich in Umlauf bringen, also, ich denke, ich mache einen kurzen internen Umlauf, gebe das den Kollegen.« Er räusperte sich. »Der Kollege Stocker hat ja nun mehrmals, Sie wissen das, eine Supervision gefordert, und ich habe erklärt, daß ich das in dieser Form nicht durchkriege. Was aber möglich ist« – er reichte ihr die Karte – »Dies ist ein Kollege aus dem polizeipsychologischen Dienst, da kann man hin, wenn man möchte. Ich meine, generell.«
»Und?« fragte sie. »Was heißt Kollege, das ist ein –« Sie wedelte mit der Karte.
»Polizeipsychologe«, sagte Pagelsdorf.
»Ja und?«
»Ganz allgemein gesagt, verstehen Sie, ich werde das noch einmal bekanntmachen.«
»Ja, wenn Sie meinen.« Sie ging an ihm vorbei und knallte die Kanne auf die Spüle. Im Fernsehen hatte sie gesehen, wie Schmetterlinge im Netz gefangen wurden, die flatterten wie
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