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Mina (German Edition)

Mina (German Edition)

Titel: Mina (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Almond
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Gartenmauer und nahm meine Hände in ihre. Ihre Hände waren knochig, trocken und kalt.
    Sie zwinkerte mir zu. „Ich habe dich schon öfter oben in deinem Baum gesehen, Mina. Du scheinst dich dort ja wie zu Hause zu fühlen.“
    „Das stimmt.“
    „Ich bin früher auch gerne geklettert, als ich noch ein Mädchen war. Ich habe den ganzen Tag lang von Kletterbäumen geträumt, wie ich mich von einem zum anderen schwinge und über die Äste spaziere, ohne auch nur einmal den Boden zu berühren.“
    „Haben Sie das auch mal gemacht?“
    „Dazu gibt es leider nicht genug Bäume, Mina. Aber ich hatte in meinem Garten einen hübschen kleinen Rundkurs angelegt. Von der Ecke des alten Klohäuschens auf den Apfelbaum, von dort aus auf eine wackelige Stehleiter und wieder zurück auf das Klohäuschen.“ Sie hob den Fuß, kicherte und stöhnte dann. „Und heute komme ich kaum noch die verflixte Treppe hoch.“
    Ein eisiger Windstoß fegte durch die Straße. Sie zuckte zusammen. „Manchmal wirkst du traurig, da oben in deinem Baum“, sagte sie.
    „Wirklich?“
    „Ja. Aber traurig zu sein ist in Ordnung. Traurig zu sein ist Teil von allem.“ Sie zwinkerte mir zu. „Persephone!“, zischte sie. „Beeil dich!“ Sie sagte es noch einmal, als ob sie ein Lied singen würde, und ich fiel mit ein.
    „Beeil dich, Persephone!
    Beeil dich, Persephone!“
    Sie wackelte mit den Hüften, als ob sie tanzen würde, und ich machte mit. Wieder stöhnte sie leise auf, knirschte mit den Zähnen und kniff die Augen zusammen. Dann grinste sie. „Morsche Knochen“, sagte sie. „Aber keine Sorge. Die lasse ich mir bald reparieren und dann …“
    Plötzlich schlug sie die Hand vor den Mund. „Du lieber Himmel!“, sagte sie.
    „Was ist denn?“
    „Mir ist gerade eingefallen, dass ich letzte Nacht von dir geträumt habe!“
    „Von mir?“
    Sie lachte. „Ja! Du hast in deinem Baum gesessen und gesagt: Komm rauf, Grace! Und da bin ich zu dir hinaufgeklettert. Du hattest winzige Federn an deinem Körper, wie ein Vogeljunges. Wie ein Küken! Du lieber Himmel, wir beide hatten Gefieder!“
    Wieder lachte sie. „Das war alles, glaube ich.“
    Ich lächelte sie an. Der Gedanke, in Graces Traum gewesen zu sein, war wunderschön.
    „Ist das nicht merkwürdig?“, sagte sie. „Ich hatte das schon ganz vergessen, und mit einem Mal ist es wieder da. Tja, so sind Träume.“
    Sie drückte noch einmal meine Hände, holte tief Atem und zuckte wieder zusammen.
    „Sie wird zurückkommen, Mina“, sagte sie. „Sie kommt immer zurück.“
    Dann zog sie ihren Schal fester um ihren Hals. „Ich muss gehen“, sagte sie. „Auf Wiedersehen, Mina.“ Sie zwinkerte mir ein letztes Mal zu. „Vielleicht träume ich wieder mal von dir.“
    „Das wäre schön. Auf Wiedersehen, Grace.“
    Sie zögerte, ehe sie sich abwandte. „Denk immer dran: Sie will genauso sehr bei uns sein wie wir bei ihr. Also rufe weiter nach ihr.“
    „Das mache ich.“
    Sie ging davon und verschwand um die Ecke.
    Ich dachte daran, dass ich in ihrem Traum gewesen war. Vielleicht sind wir ja alle im Traum von irgendjemandem. Vielleicht ist überhaupt alles ein Traum, nur ein Traum.
    Darüber dachte ich eine Weile nach. Dann schaute ich wieder auf die Erde. Ich trampelte mit den Füßen.
    „Persephone!“, rief ich leise. „Beeil dich bitte, Persephone!“
    Dann setzte ein lautes Hämmern ein.
    Ich schaute auf und sah einen Mann an der Mauer vor Mr Myers’ Haus stehen. Er hielt einen großen Hammer in der Hand und schlug einen Pfosten in den Rasen ein.
    Bumm! , machte es.
    Rums!
    Hämmer!
    Bumm!
    Sehr schön!, dachte ich. Das hört Persephone bestimmt. Hämmern Sie ruhig noch lauter, Mister!
    Als ob er meine Gedanken gehört hätte, schlug er noch einmal drauf.

    Dann packte er den Pfosten und rüttelte daran. Der war fest.
    Schließlich nagelte er ein Schild an den Pfosten:

    Der Mann stampfte die Erde um den Pfosten herum fest, rieb sich zufrieden die Hände und ging grinsend weg.
    Noch einmal schlug ich auf die Erde, noch einmal stampfte ich auf.
    „Nun mach schon, Persephone!“, sagte ich.
    Ich stellte mir vor, wie sie an Fossilien und den Überresten uralter Städte vorbeiging. Ich schaute hinauf in den stahlgrauen Himmel. Kein Fünkchen Sonnenlicht. Wieder blickte ich nach unten.
    „Bitte hör mir zu!“, sagte ich. „Die Welt braucht dich!“
    Dann ging ich hinein.
    Mama war beschäftigt. Sie schrieb einen Artikel für eine Zeitschrift. Das ist ihr Beruf –

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