Mina (German Edition)
hingen Spinnweben. Kleine Lebewesen huschten über den Boden. Lichtsplitter fielen durch die Spalten zwischen den Brettern vor den zugenagelten Fenstern. Staub (Haut!) tanzte durch den Strahl der Taschenlampe.
Sie stiegen die breite Treppe hinauf. Ihre Schritte hallten durch das ganze Haus.
„Was um alles in der Welt willst du mit einem so großen Kasten anfangen?“, fragte Mama.
„Ich werde hier selbstverständlich mit meinen Dienstboten wohnen“, erwiderte Mina. „Oder ich werde eine Schule eröffnen.“
„Eine Schule, Mylady?“
„Ja, eine Schule, in der man Nonsens lernt und die Ausübung von außergewöhnlichen Aktivitäten.“
Sie stiegen die Treppe bis ins dritte Stockwerk hinauf. Auf dem letzten Absatz befand sich eine schmale Stiege.
Mama blieb stehen.
„Die führt zum Dachboden“, sagte sie. Sie erschauerte. „Ich kann mich kaum an dieses Haus erinnern, aber ich weiß noch, dass ich immer ein komisches Gefühl bekam, wenn ich diese Treppe sah.“
„Ein komisches Gefühl?“, fragte Mina.
„Ja, und ein ängstliches.“
„Dann lass uns hochgehen.“
Mama wich in gespielter Furcht zurück. „Soll ich es wagen?“
Mina ging voraus. Die Stufen waren schmal. Mina streckte die Hand nach der Dachbodentür aus und drückte sie auf.
Sie standen in einem großen Raum. Durch ein Bogenfenster, das nicht verbarrikadiert worden war, drang Licht. Jenseits des Fensters war der Park, dahinter kamen die Dächer, Türme und Kuppeln der Stadt, dann der endlose Himmel. Das Fenster war zerbrochen. Auf dem Boden lagen Glasscherben. Sie waren mit großen Flecken aus Vogelkacke verschmiert.
„Schau mal!“, rief Mina.
In einer Wand befand sich ein Loch, wo Putz und Backsteine herausgefallen waren. Unter dem Loch war noch mehr Kot, ein paar braune und schwarze Federn und einige Fellknäuel. Mama hielt Mina zurück.
„Ein Nest!“, flüsterte Mina.
Langsam, ganz langsam, ging sie näher.
„Mina, pass auf!“, zischte ihre Mutter.
Aber Mina hatte keine Angst. Das Loch in der Wand befand sich auf einer Höhe mit ihrem Kopf. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte in die dunkle Höhlung. Sie sah gefiederte Körper eng beieinanderliegen. Sie sah, wie sich die Körper im Rhythmus der Atmung bewegten.
„Oh Mama! Oh, komm her und schau!“
Ihre Mutter kam näher. Auch sie stellte sich auf die Zehenspitzen und schaute hinein.
„Eulen!“, flüsterte Mina. „Wenn sie am Tag schlafen, müssen es Eulen sein.“
Beide blieben einen Moment lang ehrfürchtig stehen, dann zogen sie sich wieder zurück. Mama bückte sich und hob zwei von den Fellknäuel auf.
„Gewölle“, sagte Mama.
Sie gingen neben der Dachbodentür in die Hocke.
Mama zupfte an einem der Knäuel und brach es auf. Sie zeigte Mina das Fell, die Haut und die winzigen Knochen in ihrer Hand.
„Eulen verschlucken ihre Opfer in einem Stück“, erklärte sie. „Und was nicht verdaut werden kann, wird hervorgewürgt und ausgespuckt.“
Sie legte das zweite Knäuel in Minas Hand. Mina hielt es. Einst war dieser pelzige Klumpen ein Maulwurf oder eine Maus gewesen. Mina schaute zum Nest. Vor ihrem geistigen Auge sah sie die Eulen aus dem Schlaf erwachen, aus der Wand auftauchen und hinaus in den Himmel über der Stadt fliegen. Sie stellte sich vor, wie sie im Park auf die Jagd gingen.
Draußen war es immer noch heller Tag.
„Mama“, sagte sie. „Ich möchte bleiben, bis es Nacht wird. Ich möchte sie fliegen sehen.“
Mamas Augen schimmerten im Licht des Himmels, als sie Mina anschaute. Dann warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr. Noch etwa eine Stunde bis zur Abenddämmerung. Aber Mina wusste, dass ihre Mutter vom Anblick der Eulen genauso verzaubert war wie sie selbst.
„Was, wenn sie uns angreifen?“, fragte Mama.
„Wir passen auf. Wir lassen die Tür offen stehen. Wir legen uns auf die Stufen und schlagen die Tür zu, wenn sie auf uns zufliegen.“
Und genau das taten sie. Sie lagen auf den Stufen und warteten. Draußen vor dem Fenster wurde der Himmel langsam dunkler. Eng beieinander lagen sie und fühlten das schlagende Herz des anderen.
„Was sollen wir bloß machen?“, sagte Mama. „Das Fenster müsste repariert werden. Der Dachboden wird sonst ganz feucht.“
„Aber die Eulen“, sagte Mina.
„Ich weiß“, sagte Mama. Sie schüttelte den Kopf. „Was haben sie auch hier im Haus zu suchen? Sie sollten sich im Park ein Nest bauen, in einem Baum.“
Mina lächelte. Es war so geheimnisvoll und so
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