Mina (German Edition)
würde. Aber Minas Mutter war sich klar darüber, dass er das niemals wahr machen würde. Er fuhr weiter übers Meer, lange nachdem er hätte aufhören können. Schließlich schipperte er Touristen in einem kleinen Segelboot über den Indischen Ozean. Auf seiner letzten Postkarte stand, dass er bald wiederkommen würde. Er schrieb auch, dass er gerade nach einem passenden Affen suchte. Und er meinte, er sei im Paradies.
Nachdem er gestorben war, erhielt er ein Seemannsgrab. Bei Einbruch der Abenddämmerung wurde er im Indischen Ozean zur letzten Ruhe gebettet.
In seinem Testament hinterließ er alles Minas Mutter, aber das Haus in der Crow Road sollte Mina an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag bekommen. Er meinte, sie sei „das kleine Mädchen, das ich auf allen Weltmeeren in meinem Herzen getragen habe“. Mina gefiel der Gedanke, dass sie all die exotisch klingenden Orte der Welt bereist hatte, während sie gleichzeitig zu Hause in der Falconer Road gewesen war.
Dem Testament lag ein zusammengefalteter Zettel bei, der an sie adressiert war. Darauf stand:
PS : Denk dran, es ist bloß ein Haus. Pass auf, dass du nicht darin stecken bleibst. Bewahre dir deine Freiheit. Reise um die Welt.
PPS : Tut mir leid wegen des Affen.
PPPS : Tut mir leid, dass wir uns nicht öfter gesehen haben.
PPPPS : Lebe dein Leben.
PPPPPS : Die Welt ist ein Paradies.
PPPPPPS : Tut mir leid, dass ich gestorben bin (was wohl der Fall sein muss, wenn du das hier liest).
PPPPPPPS : Mach’s gut. Alles Liebe - Großvater.
Mina war bis dahin kaum in dem Haus gewesen. Es war ein großes, dreistöckiges Gebäude in der Crow Road, in der Nähe des Parks. Ihre Mutter war dort geboren worden, verband mit dem Haus aber keine Erinnerungen. Als sie drei war und ihr Vater das erste Mal zur See fuhr, zog sie mit ihrer Mutter in ein kleineres Haus, und dort wuchs sie auch auf.
Das große Haus war niemals verkauft worden. Minas Mama meinte, sie hätten es behalten, damit ihr Vater heimkommen und sich wieder dort niederlassen konnte, obwohl sie und ihre Mutter tief im Herzen gewusst hatten, dass das niemals geschehen würde.
„Hat Großmutter ihn all die Jahre geliebt?“, fragte Mina eines Tages.
Mama zuckte mit den Schultern und seufzte.
„Angeblich schon. Aber es ist schwer, jemanden zu lieben, der ständig auf den sieben Meeren unterwegs ist.“ Sie lächelte. „Deine Großmutter war selbst eine Art Urgewalt.“ Sie zwinkerte Mina zu. „Viele Männer lagen ihr zu Füßen.“
Ein paar Jahre lang war das Haus an Studenten vermietet worden. Mina hatte sie hinein- und hinausgehen sehen, hatte gesehen, wie sie Fahrräder in die große Diele schoben, im Vorgarten saßen und belegte Brote aßen, eine Frisbeescheibe warfen und Gitarre spielten. Sie erinnerte sich daran, dass sie sich überlegte hatte, wie es wäre, mit vielen Freunden in einem großen Haus wie diesem zu wohnen und im Garten Frisbee zu spielen, aber sie hatte sich irgendwie nicht vorstellen können, viele Freunde zu haben. Dann hatte sie gedacht: Vielleicht finde ich Freunde, die ein bisschen so sind wie ich, und wir lernen, miteinander auszukommen.
Die Studenten waren irgendwann weg. Das Haus verfiel zusehends. Renovierungen wurden notwendig: Die Fensterrahmen fingen an zu verrotten und die Stromleitungen mussten erneuert werden. Minas Mutter schrieb ihrem Großvater, und er meinte, er würde sich darum kümmern. Natürlich wussten sie, dass er das nicht tun würde. Und so schloss Minas Mutter eines Tages das Haus ab, vernagelte die Fenster und hängte ein großes Schild an die Tür, auf dem ein einziges Wort stand:
GEFAHR
Und lange Zeit geriet das Haus fast in Vergessenheit.
Eines Nachmittags, kurz nachdem das Testament verlesen worden war, holte Mama den Schlüssel für das Haus aus der Schublade. Sie nahm sich eine Taschenlampe. Und dann zogen sie und Mina alte Kleidung an und gingen zur Crow Road, zu dem dunkelgrünen Tor, das auf das Grundstück führte. Mama schloss das Tor auf, und sie gingen durch den Garten bis zur Tür, an der das Gefahrenschild hing. Auch diese Tür machte Mama auf. Dann trat sie beiseite und verbeugte sich.
„Mistress McKee, dies ist Euer Erbe“, sagte sie mit einer Geisterstimme und schob Mina hinein in die Dunkelheit.
Die Zimmer waren groß, mit nackten Holzdielen und nackten Wänden. Mama leuchtete mit der Taschenlampe in die Ecken, um Mina den abbröckelnden Putz zu zeigen, die sich ablösende Tapete, die leeren Lampenfassungen. Überall
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