Mina (German Edition)
die mir übers Kinn lief. Ich kaute und schob alles in meinem Mund hin und her. Lecker! So lecker! Spaghetti mit Tomatensoße ist eine der leckersten Sachen im bekannten Universum.
Mama sagt, dass wir irgendwann einmal nach Italien fahren und Spaghetti mit Tomatensoße in seinem Ursprungsland essen werden. Wir werden Parmesan essen und Parmaschinken, sonnengetrocknete Tomaten, Polenta, Risotto, Oliven und Knoblauch und Fettucini und Eiscreme und Tiramisu und Zabaglione, alles in dem Land, aus dem es kommt, wo die Sachen viel besser schmecken als irgendwo sonst. Ich bin noch nicht viel herumgekommen, aber Mama sagt, dass wir reisen werden, wenn wir es uns leisten können.
Als wir die Spaghetti aufgegessen haben und uns der leckere Tomaten-Knoblauch-Geschmack noch immer auf der Zunge liegt, setzen wir uns auf das Sofa und essen Eis, während draußen vor dem Fenster die Sonne untergeht.
Ich erzähle ihr von den Amseleiern und den Distelfinken und von der Familie, die allem Anschein nach bald in Mr Myers’ Haus einziehen wird.
Dann schweigen wir. Wir schauen zu, wie sich der Himmel verdunkelt und rot färbt, während die Sonne hinter dem Horizont versinkt. Wir sehen die Vögel nestwärts fliegen. Wir sehen ein Flugzeug, weit, weit weg und so unbeschreiblich hoch. Ich denke an die unfassbaren Reisen, die Vögel rund um die Welt machen. Und ich denke an die Reisen, die ich eines Tages unternehmen könnte.
„Bologna“, sage ich leise.
Sie lächelt. Das ist ein Spiel zwischen uns: Wir zählen einfach all die Namen der Orte auf, die wir eines Tages besuchen möchten.
„Andalusien.“
„Luxor.“
„Trinidad.“
„Seaton Sluice.“
Der Grund dafür, dass wir so wenig Geld haben, ist, dass meine Mutter ihre Arbeitszeit verkürzt hat, um mich unterrichten und für mich sorgen zu können. Aber sie redet nie darüber. Sie sagt bloß, dass ich vorläufig einfach in Gedanken reisen müsste, bis wir es wirklich tun könnten.
„Und in meinen Träumen“, sage ich.
„Ja, in deinen Träumen kannst du auch reisen.“
„Nach Ashby-de-la-Zouche“, sage ich.
„Oder nach Wladiwostok.“
„Corryvreckan, Trinidad, Peru.“
Der Himmel ist fast ganz schwarz geworden.
„Ich habe heute etwas Interessantes herausgefunden“, sagt sie.
„Tatsächlich?“
„Ja. Es scheint so, dass einige Vögel in der Nacht fliegen und dass sie während des Flugs schlafen.“
„Sie schlafen, während sie fliegen?“
„Ja.“
„Was sind das für Vögel?“
„Mauersegler, glaube ich.“
Ich lächele bei der Vorstellung.
„John O’Groats.“
„Kerry.“
„Ayers Rock.“
„Lhasa.“
Später, bevor ich zu Bett gehe, hänge ich mir einen Zettel über mein Bett, in der Hoffnung auf einen Traum.
M ina
A ußergewöhnlich
U niversum
E ier
R eisen
S chlafen
E ule
G leiten
L uft
E rde
R uhig
Heute Nacht werde ich fliegen.
Im Schlaf.
Am Anfang kam es ihr überhaupt nicht wie ein Traum vor. Es war eher wie ein Erwachen. Mina war in ihrem Zimmer, und alles war tatsächlich genauso wie in ihrem Zimmer. Dann merkte sie, dass es zwei Minas gab. Eine lag schlafend im Bett und die andere stand neben dem Bett und schaute auf die Mina herab, die schlafend im Bett lag.
Das ist merkwürdig, dachte sie. Ich betrachte mich selbst. Wie kann das sein?
Während sie das dachte, begann sie, zur Decke aufzusteigen. Die Mina im Bett rührte sich nicht. Die schwebende Mina sah eine Art silbrig schimmernde Schnur zwischen sich selbst und der Mina auf dem Bett. Die Schnur verband die beiden Minas, obwohl sie sich voneinander entfernten. Die schwebende Mina überlegte, ob sie wohl Angst vor dem haben sollte, was gerade geschah, aber sie konnte nichts Beängstigendes daran erkennen. Sie schaute auf sich selbst hinab, auf das bleiche, schlafende Gesicht, die geschlossenen, schlafenden Augen, das nachtschwarze Haar. Sie sah, wie sich die Bettdecke sanft hob und senkte, im Rhythmus des Atems der schlafenden Mina. Alles war so still und gemütlich.
Sie lächelte und stieg weiter in die Höhe, durch die Zimmerdecke in den dunklen Dachboden darüber. Sie sah die Kisten, in denen ihr altes Spielzeug verpackt war, Kartons mit Papieren ihrer Mutter, andere Kartons mit Weihnachtsdekoration und alten Büchern. Die silbrig schimmernde Schnur verlief durch den Boden bis zu der jetzt unsichtbaren Mina im Bett. Und immer weiter schwebte sie hinauf, durch das Dach, über das Haus hinaus, in die Nacht mit dem Mond und den Sternen über sich und dem
Weitere Kostenlose Bücher