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Mina (German Edition)

Mina (German Edition)

Titel: Mina (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Almond
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sagte es trotzdem, im Stillen, tief in mir drin: „ GUT GEMACHT , IHR AMSELN ! IHR SEID AUSSERGEWÖHNLICH ! IHR HABT DAS ERSTAUNLICHSTE AUF DER GANZEN WELT ERSCHAFFEN ! IHR HABT NEUE UNIVERSEN ERSCHAFFEN !“
    Vielleicht hörten sie mich, irgendwie, und ganz gewiss sahen sie mich, denn sie schimpften und stießen ihre Warnrufe aus, sodass ich mich wieder auf meinen niedrigen Ast gleiten ließ. Sie sind es gewohnt, mich dort sitzen zu sehen, und dort können sie mich ignorieren. Ich seufze vor Freude. Die Küken sind unterwegs.
    Und dann sehe ich die neue Familie vor dem Haus von Mr Myers. Der arme Junge ist so schlecht gelaunt wie immer. Wieder tritt er die Erde, als ob er ihr wehtun wolle. Der Arme. Sieht so aus, als sei er der perfekte Kandidat für diese Pillen, die man mir verabreichen wollte, oder für die Corinth-Avenue-Schule für Schülerinnen und Schüler mit besonderen Bedürfnissen.
    Kopf hoch!, möchte ich ihm zurufen. Du hast eine Mama und einen Papa. Und bald hast du auch eine Schwester oder einen Bruder!
    Seine Eltern lächeln. Die Mutter hält sich den Bauch, und ich sehe, dass er eiförmig ist. Ich muss an mich halten, um nicht vom Baum zu springen, über die Straße zu rennen und ihr zu sagen, dass auch sie ganz außergewöhnlich ist.
    „ JA !“, schreie ich innerlich. „ ES IST ZEIT , DASS HIER IN DER GEGEND WIEDER ETWAS GEBOREN WIRD ! KAUFT DAS HAUS , UND DANN WERDEN IN DIESEM FRÜHLING IN DER FALCONER ROAD EIN BABY UND DREI AMSELKÜKEN GEBOREN !“
    Vielleicht hört sie mich, irgendwie. Sie dreht den Kopf, aber ich bin mir sicher, dass sie mich durch das dichte Laub nicht sehen kann. Oh, sie sieht sehr nett aus. Sie sehen alle sehr nett aus. Sie haben einen Schlüssel. Sie schließen die Tür auf. Sie gehen hinein.
    Ich stelle mir vor, wie sie durch den Staub laufen. Ich stelle mir vor, wie sich ihre Haut mit der Haut von Mr Myers vermischt, ihr Atem mit seinem, ihre Leben mit seinem Leben, mit seinem Tod. Ich lehne mich mit dem Rücken gegen den Baumstamm. Ich schließe die Augen. Ich denke über die Frau mit dem eiförmigen Bauch nach. Und ich frage mich, ob Mama auch wieder einen eiförmigen Bauch gehabt hätte, wenn Papa nicht gestorben wäre.

Ei

Ich sitze
in meinem Baum,
die Knie an die Brust gezogen.
Ich leere meinen Geist und vergesse,
dass ich Mina heiße. Ich weiß nichts
über die Welt. Ich weiß überhaupt nichts.
Ich bin in einem Ei. Ich bin ein geheimes,
verborgenes, unfertiges Ding. Ein Küken, das
in einer klebrigen, zähen Masse heranwächst.
Winzige Knochen, Federn, Klauen, Augen und
ein Gehirn bilden sich in mir aus. Ich sitze da,
lange, lange Zeit, tief in meinem Baum verborgen,
tief in mir selbst, tief in meinem Ei, zusammen-
gerollt in der bläulich grünen Dunkelheit,
und warte auf den Augenblick, in dem
ich mir meinen Weg aus dem Ei
picke, warte darauf, wieder
geboren zu werden, warte
darauf, ein Vogel
zu sein.

Dann zeichne ich: Vögel und Blätter und Bäume, und auch darin verliere ich mich. Da flattert ein Distelfink zwischen den oberen Zweigen hin und her, dann ein zweiter – sein Gefährte. Ich denke an den letzten Herbst, als ein ganzer kleiner Schwarm dieser Vögel hier war. Sie werden wiederkehren, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Ich habe Mama von ihnen erzählt, und sie sagte mir, dass Distelfinken Glück bringen sollen. Ein Schwarm voller Glück! Wie wunderschön!
    Ich betrachte die beiden Distelfinken. Schwarz, golden, rot, braun und weiß flattern sie durch das grüne Laub. Dann fliegen sie davon, in das unendliche Blau. Weiß ein Distelfink eigentlich, wie hübsch er ist? Weiß das irgendein Vogel? Weiß er, wie herrlich sein Lied klingt? Wenn er es wüsste, würde er vielleicht versuchen, nicht mehr ganz so hübsch und herrlich zu sein. Er würde kein Glück mehr bringen wollen.
    Früher waren die Distelfinken die Lieblingsbeute der Vogelfänger. Wenn die Distelfinken das gewusst hätten, hätten sie sich im Schlamm gewälzt, bis sie erdbraun gewesen wären. Sie hätten gekrächzt oder geschrien – oder geschwiegen – anstatt so laut zu singen. Sie hätten sich in dunklen und abgelegenen Ecken und Winkeln verkrochen, anstatt mit glänzend buntem Gefieder durch die Gärten der Menschen zu flattern. Sie hätten ihre wunderschöne Stimme versteckt gehalten.
    Aber die Distelfinken wissen nichts über Bosheit und Dummheit. Und so flogen und sangen sie, wurden in Netzen gefangen, in Käfige gesteckt und verkauft. Man hing sie an Zimmerdecken oder

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