Mina (German Edition)
Zeit, die Geschichte der Corinth-Avenue-Schule für Schülerinnen und Schüler mit besonderen Bedürfnissen aufzuschreiben.
Als Mama sagte, dass sie mich aus der Schule nehmen und zu Hause unterrichten wollte, kamen ein Mann und eine Frau vom Schulamt zu uns. Ich kann mich nicht mehr an ihre Namen erinnern. Vielleicht Miss Palaver und Mr Trench. Sie setzten sich auf das Sofa, tranken Tee, knabberten Gebäck und versuchten, interessiert und besorgt auszusehen.
Miss Palaver (die einen großen Bogen um die Doppelkekse machte) betrachtete mich aus dem Augenwinkel. Ich saß sehr gerade und ordentlich auf einem Klavierschemel. Sie sagten, dass Mama natürlich das Recht hätte, diese Entscheidung zu treffen. Aber wären wir uns auch der Konsequenzen bewusst? Mich zu Hause zu unterrichten, würde meine Mutter viel Zeit und Kraft kosten. Uns stünden nicht die gleichen Einrichtungen zur Verfügung wie einer Schule. Und ich wäre nicht in Gesellschaft gleichaltriger Kinder.
Meine Mutter meinte, dass uns das alles klar sei. Wir wären bereit, die Sache durchzuziehen. Mehr noch: Wir freuten uns darauf. Außerdem, so sagte sie, wäre es vermutlich nicht für immer.
„Vielleicht doch“, warf ich schnell ein.
Miss Palaver sah mich überrascht an. Ich erwiderte ihren Blick. Sie trug ein schwarzes Kostüm mit einer weißen Bluse und silberne Ohrringe. Auch Mr Trench war schwarz-weiß gekleidet. Ich wollte sie schon fragen, ob sie danach noch zu einer Beerdigung gingen, dachte dann aber, dass das wohl nicht der Fall war.
Stattdessen sagte ich, ein bisschen überrascht über mich selbst: „Miss Palaver?“
„Ja, Liebes?“
„Wie kann der Vogel, zur Freude geboren, im Käfig noch ans Singen denken?“
Mama warf mir einen Blick zu.
„Ich verstehe nicht ganz“, sagte Miss Palaver.
„Macht nichts“, sagte ich.
Ich setzte mich wieder kerzengerade hin. Ich schaute an Miss Palaver vorbei zur Straße.
Mama erzählte gerade, dass Mina einen Sinn fürs Abenteuer hätte. Sie sagte, dass sie sich viel Zeit für Mina nehmen würde. Sie redete von Minas Papa und davon, dass Mina ein Einzelkind sei, und dass sie nichts gegen die Sankt-Beda-Schule hätte, aber …
„Und was unsere Möglichkeiten und Einrichtungen angeht“, warf ich ein, „haben wir einen sehr schönen Baum im Vorgarten, auf dem mir viele Dinge einfallen. Und die Küche ist ein wunderbares Labor und gleichzeitig ein Kunstraum. Und ein besseres Klassenzimmer als die Welt selbst gibt es wohl nicht.“
Mama lächelte.
„Wie Sie sehen“, sagte sie, „ist Mina ein Mädchen mit eigener Meinung und eigener Haltung.“
Miss Palaver starrte mich an. Ich konnte förmlich sehen, dass sie Mina für ein anstrengendes Mädchen mit eigenem wichtigtuerischen Gehabe hielt.
„Um ehrlich zu sein“, sagte ich und schaute ihr geradewegs in die Augen, „halten wir Schulen für Käfige.“
„Tatsächlich?“, sagte Miss Palaver.
„Ja“, fuhr ich fort. „Wir glauben, dass Schulen die natürliche Intelligenz, Neugier und Kreativität von Kindern unterdrücken.“
Mr Trench verdrehte die Augen.
Mama lächelte und schüttelte den Kopf.
„Tatsächlich?“, fragte Miss Palaver wieder.
„Tatsächlich“, sagte ich.
„Mrs McKee“, sagte Mr Trench, „ehe sie eine endgültige Entscheidung treffen, sollte Mina einen Tag in der Corinth Avenue verbringen.“
„In der Corinth Avenue?“, wiederholte Mama fragend.
„Dorthin schicken wir Kinder, die nicht so recht …“
„… wollen“, ergänzte Miss Palaver.
Mr Trench zog eine Broschüre aus der Innentasche seines schwarzen Jacketts und reichte sie Mama.
„Es kann nicht schaden“, sagte er.
Außergewöhnliche Aktivität
Lies die Gedichte von William Blake.
Besonders zu empfehlen, wenn man Miss Palaver heißt.
Der Gedanke an die Corinth Avenue macht mich nervös, also nehme ich mein Notizbuch und meinen Stift und gehe nach unten. Das ist etwas, was ich in meinem Baum aufschreiben muss!
Mama telefoniert im Wohnzimmer. Ich hole mir einen Apfel aus der Obstschale und beiße hinein. Ich ziehe mir Turnschuhe an. Draußen sieht es kühl aus, daher schlüpfe ich in meine Jacke und wickele mir einen Schal um. Sie telefoniert immer noch.
„Ich gehe raus!“, rufe ich.
Sie antwortet nicht.
„Ich gehe raus, Mama!“, rufe ich noch einmal.
Ich lausche. Zucke mit den Schultern und gehe zur Tür. Da kommt sie aus dem Wohnzimmer.
Ich halte Buch und Stift hoch.
„Ich bin im Baum“, sage
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