Mina (German Edition)

stellte sie auf Kommoden oder Bücherregale, auf Fensterbänke, und sie sangen. Und ihre Lieder waren gewiss voller Sehnsucht und Schmerz. Und ihre Lieder erhoben sich über die dummen, langweiligen Gespräche ihrer dummen, langweiligen Kerkermeister.
    Stellt sie euch vor! Stellt euch die dummen, langweiligen Leute vor, die Vögel fangen, die sie in Käfige sperren! Wie langweilig sie sein müssen! Wie dumm sie sein müssen!
    Heutzutage stecken wir keine Distelfinken mehr in Käfige. Aber es gibt immer noch viele Vogelfänger auf der Welt – Leute, die den Geist einfangen, Menschen, die die Seele in Käfige sperren. Die gibt es überall.

    Sie flogen weg, die beiden Glücksbringer. Fliegt, ihr Distelfinken! Fliegt und singt!
    Jetzt sitze ich auf dem Baum und warte. Ich sitze in dem bläulich grün gefleckten Licht. Ich habe mein Notizbuch auf den Knien. Ich beobachte Mr Myers’ Haus. Nichts rührt sich dort. Mein Stift wandert über die Seite.

    Ich spiele mit meinem Namen und meinem Stift und dann erfinde ich ein Gedicht, das beweist, wie Recht Mrs Scullery hatte. Mina McKee ist wahrhaftig hart wie Stahl!
    M   I   N   A
H   A   R   T
T   R   A   H
A   N   I   M
    Ich spiele weiter mit Worten und meinem Stift. Ich betrachte die leere Seite, und es ist, als würde ich einen leeren Himmel anschauen, der darauf wartet, dass ein Vogel vorbeifliegt. Ich stelle mir einen Schwarm Distelfinken vor, die frei darüber hinwegfliegen. Ich stelle mir vor, wie sie den Blicken entschwinden und der Himmel und die Seite wieder leer sind.
    Dann denke ich an einen anderen Vogel, an eine Lerche. Ich stelle mir vor, wie sie hochfliegt, über die ganze Seite nach oben. Ich erinnere mich an die außergewöhnliche Tatsache, dass Lerchen – anders als andere Vögel – singen, wenn sie sich von der Erde in die Luft erheben. Sie singen, wenn sie hoch am Himmel fliegen, und sie singen, wenn sie wieder zur Erde niederschweben. Die Lerche scheint von ihrem Lied getragen zu werden!

    Während ich die Lerche hoch in den Himmel schreibe, sehe ich Wisper unter mir. Da ist er, schleicht durch die Schatten. Der Kater ist auf der Jagd. Nach Mäusen, vielleicht. Nach Opfern.
    SCHWARZES TIER
Schwarzes Tier schwarzes Tier
Geschöpf der Dunkelheit
Geschöpf der Unterwelt
Geschöpf des Hauses der Toten
Geschöpf, so samten wie die samtene Nacht
Schwarzes Tier schleicht
Durch meine dunklen Träume
Schwarzes Tier schnurrt
In meinem roten roten Herzen
Schwarzes Tier jault
In meiner sehnsuchtsvollen Seele
Schwarzes Tier schwarzes Tier
Dein Blut ist mein Blut
Deine Klauen sind meine Klauen
Dein Fell ist mein Fell
Dein Herz ist mein Herz
Du kamst zu mir aus der Dunkelheit
Du bist mein schwarzes schwarzes Tier der tiefsten Dunkelheit
Und du bist Wisper.
    Stundenlang, so kommt es mir vor, schreibe ich in dem blaugrün gefleckten Licht. Mein Geist und meine Finger arbeiten Hand in Hand, und ich bin verloren in meinen Gedanken, verloren in meinen Worten, und die Minuten vergehen, die Minuten vergehen, und im geheimen, verborgenen Mittelpunkt der blaugrünen Eier wachsen die geheimen, verborgenen Kreaturen.
    Und dann blinzle ich, schaue auf und sehe die Familie wieder auf der Straße stehen. Ich bin vor ihren Blicken verborgen, und meine Lider sind ganz still. Sie wissen nicht, dass ich da bin. Ich spähe zwischen den Blättern hindurch.
    Der Junge wirkt schlecht gelaunt, wie immer.
    Die Eltern wirken erfreut.
    Sie fahren in dem kleinen blauen Wagen davon.
    Ich schaue ihnen nach, wie sie die Straße verlassen, wie sie mein Notizbuch verlassen.
    Ich denke an die geheimnisvolle Verbindung zwischen Wörtern und der Welt. Und gleich darauf wandert mein Stift weiter, und ich kann gar nicht aufhören zu schreiben, während ich hier sitze zwischen den blaugrünen Eiern in dem blaugrünen Nachmittag.

Spaghetti mit Tomatensoße & ein Traum
    Ich hätte schreiben können, bis es dunkel wurde, aber Mama rief mich vorher ins Haus. Ich kletterte vom Baum. Ich fühlte mich seltsam, als ob ich aus einem Traum kommen würde. Oder aus einem Gedicht oder einer Geschichte oder als ob ich selbst ein Gedicht oder eine Geschichte wäre. Oder als ob ich aus einem Ei käme. Aber das Abendessen – Spaghetti mit Tomatensoße – half mir, mich wieder normal zu fühlen. Spaghetti mit Tomatensoße.
    Ich wickelte die Spaghetti auf meine Gabel und schob sie mir in den Mund. Ich schlürfte die baumelnden Enden der Nudeln auf. Ich leckte die Soße ab,