Mina_Hepsen_03-Unsterblich wie die Liebe
blinzelte noch
ein paarmal. Er hatte den Eindruck, dass sie immer noch nicht so richtig wach
war.
»Mein Vater war
genauso. Ein richtiger Morgenmuffel.«
Dass es noch mitten
in der Nacht war, erwähnte Mikhail nicht.
»Tamburin«, sagte
sie, wickelte sich ins Bettlaken und schwang die Beine aus dem Bett.
Mikhail wusste nicht,
ob er über ihre wirre Art lachen oder weinen sollte, während er zusah, wie sie
mit den Laken und ihrer offensichtlichen Verwirrung kämpfte. Was meinte sie
jetzt schon wieder?
Ins Laken gewickelt
schlurfte sie ums Bett herum und blieb vor ihm stehen.
»Tamburin?«,
wiederholte er.
»Ja. Meine Mutter
hatte eins. Das hat mich schneller geweckt als alles andere.« Sie warf einen
vielsagenden Blick auf den Wasserkrug.
Er hätte sie zu gerne
gefragt, was »alles andere« bedeutete, hatte aber das Gefühl, dass das mehr
Fragen als Antworten aufgeworfen hätte. Und dafür hatten sie keine Zeit.
»Na gut. Also, dann
werde ich jetzt Nora zu Ihnen reinschicken. Sie hat sich freundlicherweise
bereit erklärt, Ihnen eins ihrer Kleider zu überlassen.«
»Ach ja? Einfach
so?«, fragte Nell spitz. Sie wirkte jetzt hellwach und musterte ihn
herausfordernd. Mikhail lachte.
»Ja, einfach so.«
Sie brauchte ja nicht
zu wissen, dass er die Familie großzügig für ihre Hilfe entlohnt und Nora ein
wenig extra für das Kleid gegeben hatte.
»Wie gesagt, ich
werde Nora zu Ihnen reinschicken. Dann können Sie sich umziehen. Wir dürfen uns
den Eselskarren ausleihen und damit zum nächsten Gasthof fahren, der eine halbe
Stunde von hier entfernt ist. Dort finden wir dann jemanden, der uns nach Bath
bringen wird, hat man mir versichert. Und wie's von dort weitergeht, müssen Sie
mir sagen.«
Nell nickte
widerwillig.
»Alles wird gut,
Nell. Wenn die Geschichte hier vorbei ist werde ich alles in meiner Macht
Stehende tun, um Ihnen das Leben Ihrer Träume zu bieten.«
Das Leben meiner
Träume. Wie das wohl aussieht?, überlegte Nell, während sie Katjas
Köpfchen in ihre Armbeuge bettete. Früher hatte sie sich vor allem Dinge
gewünscht: ein kleines Häuschen, genug Geld, um Mann und Kindern ab und zu
etwas Gutes zu backen. Aber das waren alte Wünsche. Mit ihrem sechzehnten
Lebensjahr hatte sich alles geändert. Jetzt wünschte sie sich keinen Mann mehr,
keine Kinder. Nicht bei der Zukunft, die sie erwartete.
Der Tag würde kommen,
an dem ihre Visionen so stark wurden, dass sie den Verstand verlor und irrsinnig
wurde, so wie ihre Mutter ... Und alle, die sie liebten, würden den bitteren
Preis dafür bezahlen müssen.
Nein, es war besser,
sie blieb allein.
In diesem Moment ging
der Kutschenschlag auf, und Mikhail stieg lächelnd ein, Mitja auf den Armen.
»Der Wirt hat
versprochen, den Eselskarren zurückbringen zu lassen. Wir können also unbesorgt
Weiterreisen.«
Nell versuchte, sein
Lächeln zu erwidern, doch es gelang ihr nicht. Mikhail hatte versprochen, ihr
das Leben ihrer Träume zu bieten, aber er brachte sie in ihr Dorf zurück. Und
nie mehr dorthin zurückkehren zu müssen war so ziemlich ihr einziger Wunsch
gewesen.
Mikhail ließ sich auf
die gegenüberliegende Sitzbank sinken, und die Kutsche setzte sich in Bewegung.
»Unglaublich, wie
fest sie schlafen«, bemerkte er einen Moment später, den Blick zuerst auf das
eine, dann auf das andere Kind gerichtet. Nell musste ihm zustimmen. Die beiden
hatten nicht nur die Fahrt zum Gasthof verschlafen, sondern schienen selbst
jetzt noch nicht aufwachen zu wollen.
»Obwohl, wem sage ich
das. Sie scheinen ja nicht mal dann aufzuwachen, wenn Sie Ihr Lager neben einem
Schlachtfeld aufgeschlagen haben.«
Nell hätte eigentlich
beleidigt sein sollen, aber Mikhails Lächeln machte ihr das fast unmöglich. Nun
gut, er konnte ein Sparring haben, wenn es sein musste! Tatsächlich hatte sie
selbst gute Lust dazu, das lenkte sie zumindest von der bevorstehenden Rückkehr
ins Dorf ab.
»Schlachtfelder, hm?
Wer hätte das gedacht! Und ich habe Sie für einen Gentleman gehalten, der eher
an eine Umgebung voller Mingvasen und antiker Gobelins gewöhnt ist.«
Er hob eine Braue.
»Mingvasen und Gobelins? Ich dachte immer, dass Leute, die Verallgemeinerungen
über das faule Leben der Oberschicht von sich geben, sich eher auf Silberlöffel
und Partys konzentrieren.«
Nell wusste selbst,
dass sie Verallgemeinerungen von sich gab. Immerhin kannte sie das Leben der
Oberschicht aus erster Hand. Und wusste, wie unglücklich manche dieser
Aristokraten in Wahrheit
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