Mina_Hepsen_03-Unsterblich wie die Liebe
er dann und schaute blinzelnd
ins Halbdunkel. Er konnte ihre Wärme im Rücken spüren, verlockend, betörend.
Ihr Haar roch wie immer nach Rosen. Er schloss fest die Augen und hoffte,
möglichst schnell einzuschlafen.
Was auch geschah.
Nell fuhr erschrocken
aus dem Schlaf auf und schaute sich verwirrt in dem vom Mond beschienenen
Zimmer um. Wie lange hatte sie geschlafen? Sie hatte nicht allzu weit in die
Zukunft geblickt, womöglich schlichen die Mörder in diesem Moment zu ihrem
Zimmer hinauf! Und wo waren die Kinder? Wo waren die Kinder!
Panisch sprang sie
aus dem Bett und stolperte zum Fenster. Da sie ganz auf die leere Landstraße
konzentriert war, dauerte es einen Moment, bis Mikhails Stimme zu ihr
durchdrang.
»Nell? Ah, du bist
wach! Ich hatte schon Angst, ich müsste dir wieder einen Krug Wasser über den
Kopf schütten.«
Nell hätte bei der
Erinnerung an diesen Vorfall normalerweise gelächelt, aber jetzt war ihr nicht
nach Lächeln zumute. Verwirrt schaute sie sich zu Mikhail um, der soeben das
Zimmer betrat. Hatte er nicht gerade noch neben ihr gelegen? Doch, das hatte
er! Sie wusste genau, sie hatte den Atem angehalten, um nicht seinen vertrauten
Geruch einatmen zu müssen, um nicht zu hoffen, er würde sich umdrehen und sie
in die Arme nehmen. Verzweifelt hatte sie sich vorgestellt, überall zu sein,
bloß nicht hier, im Bett mit ihm ... Ja, das wusste sie noch ganz genau, also
hatte er bestimmt neben ihr gelegen!
»Seit wann bist du
auf? Konntest du nicht schlafen?« Erst jetzt bemerkte sie, dass er einen Krug
Wasser in der Hand hielt. Sie hob missbilligend die Braue. Er hatte also
tatsächlich vorgehabt, ihr das Wasser über den Kopf zu schütten, dieser Flegel!
»Doch, aber nicht
lange. Unsere Stunde ist fast um. Morag ist unten bei den Kindern. Ich
fürchtete zuerst, wir müssten auf die Morgendämmerung warten, aber wir können
gleich weiterreiten. Die Wolkendecke ist aufgerissen, der Himmel ist klar, und
der Mond scheint hell.«
»Hell genug, um uns
einen Vorsprung zu verschaffen, wenn wir gleich weiterreiten?«, vermutete sie.
»Einen Vorsprung?
Nein, Nell. Wenn's für uns hell genug zum Reiten ist, ist es auch hell genug
für die anderen.«
Natürlich, was sonst.
Ihre Verfolger würden kaum so rücksichtsvoll sein, eine Pause einzulegen, so
dass sich ihre Opfer eine Nacht Schlaf erlauben konnten.
Erst jetzt spürte
Nell, wie ihr die Beinmuskeln vom Reiten wehtaten. Und gleich ging es weiter!
Sie schnitt eine Grimasse. Keine verlockende Aussicht.
»Na gut, wenn ich ein
wenig von dem Wasser benutzen kann, das du fürsorglicherweise mitgebracht hast,
werde ich mich ein wenig frisch machen, dann können wir los«, erklärte sie resolut.
»Du kannst so viel
haben wie du willst.« Mikhail grinste. Dann wies er mit einer Kopfbewegung auf
das klei ne
Tischchen. »Ich habe dir zuvor eine Schale Suppe ge bracht. Wird jetzt wahrscheinlich
kalt sein, aber du solltest sie trotzdem essen, du brauchst
die Stärkung.«
Der Nachtwind pfiff
ihr kalt ins Gesicht, und Nell war froh darüber. Eigentlich hätte sie jetzt, wo
sie wieder auf einem Pferderücken saß und auf der Flucht war, hellwach sein
müssen, aber das war nicht der Fall - trotz einer Schale lauwarmer Suppe und
einer erfrischenden Katzenwäsche. Sie hatte das Gefühl, irgendwie entrückt zu
sein, als wäre sie nicht ganz da. Als säße eine fremde Person auf der braunen
Stute und hielte ein Baby in ihren Armen, den Blick auf den vor ihr reitenden
Mann gerichtet.
War es das, was mit
den Menschen im Krieg geschah? Ihr Vater hatte ihr seine Theorien oft genug
auseinandergesetzt. Er meinte, wenn Menschen in eine sehr schwierige,
gefährliche oder ausweglose Situation gerieten, würde sich ein Schalter in ihrem
Gehirn umlegen und eine Art Verteidigungsmechanismus aktiviert. Das Bewusstsein
des Menschen zog sich in sich selbst zurück, und er wurde zum reinen Beobachter
in seinem eigenen Körper.
War es das, was jetzt
mit ihr geschah?, fragte sich Nell. Sie hoffte nicht. Immerhin befanden sie
sich nicht im Krieg. Und sie waren sicher - zumindest vorläufig, für mindestens
eine Stunde. Sie hatte nachgesehen.
Und selbst wenn
Mikhail seine Nacht mit ihr inzwischen zu bereuen schien, was hatte das schon
zu bedeuten? Was machte es, dass er den Vorfall mit keinem Wort mehr erwähnt
hatte und auch das Bett in dem Gasthof nicht mit ihr hatte teilen wollen,
obwohl er dringend Schlaf gebraucht hatte? Es war besser so. Er war schließlich
ein
Weitere Kostenlose Bücher