Mina_Hepsen_03-Unsterblich wie die Liebe
von - wie alt war
Violet eigentlich? Ismail rettete Nell aus ihrem Gedankenwirrwarr, indem er
fortfuhr: »Auch Sie scheinen mir älter zu sein, als Sie aussehen, Miss Nell.
Ihre Augen verraten mir, dass Sie viel verloren haben und deshalb zornig auf
die Welt sind.«
»Ich bin nicht
zornig!«, entgegnete Nell automatisch. Als er sie daraufhin auf seine gütige
Weise ansah, wurden ihr zwei Dinge klar: Seit dem Tod ihrer
Mutter hatte niemand mehr so zu ihr gesprochen - und das war einer von vielen Gründen, warum sie so
zornig war! Nell spürte, wie ihr» nun doch die Tränen kamen. Wütend und
verlegen wischte sie sich die Wangen ab.
»Tut mir leid, ich
weiß gar nicht, was ...« Die Halbwahrheit erstarb auf ihren Lippen. Sie konnte
nicht lügen, nicht vor
diesem Mann, der in ihr Herz zu schauen schien.
»Sie müssen sich
nicht entschuldigen, Miss Nell. Tränen sind die Sprache des
Herzens. Sie sollten sich vielleicht weniger Gedanken darüber machen, wie Sie
sie verbergen können, als vielmehr, was sie Ihnen sagen wollen.«
Die Hand an der
Wange, erstarrte Nell. Unsicher schaute sie ihn an. »Ich verstehe nicht.«
Er nickte, als hätte
sie eine Frage beantwortet und nicht gestellt.
»Sehr scharfsinnig.
Ihr Herz benützt diese Tränen, um Ihnen etwas mitzuteilen. Und diese Botschaft
könnte sehr wohl lauten, dass Sie nicht verstehen.« Er hielt inne und deutete
mit einem langen schlanken Finger auf ihr Herz. »Verstehen Sie denn Ihr Herz?«
Natürlich, wollte
Nell schon sagen, doch dann schwieg sie und ließ es sich durch den Kopf gehen.
Verstand sie ihr Herz? Ihr Herz liebte Mikhail. Ihr Verstand kannte tausend
Gründe, warum diese Liebe töricht war und nur zu Kummer führen konnte. Waren
die Tränen ein Zeichen? War es der Einspruch ihres Herzens gegen die
Entscheidung ihres Verstandes? War es eine Rebellion gegen die Überzeugung,
dass eine Verbindung zwischen ihr und Mikhail unmöglich war?
»Herz liebt,
aber mein Verstand weiß, dass es unmöglich ist«, sagte sie leise.
»Unmöglich?«,
entgegnete Ismail lächelnd. »Ebenso unmöglich, wie in die Zukunft sehen zu
können?«
Er wusste also von
ihrem Fluch? Sie hätte beschämt, ja wütend sein sollen, weil man ihr Vertrauen
missbraucht hatte, doch das war nicht der Fall. Seltsam, aber es machte ihr
nichts aus, dass dieser Mann über sie Bescheid wusste.
»Es gibt Dinge, die
unmöglich sind«, beharrte Nell.
Ismails Lächeln
verschwand. »Wenn Sie ebenso stark an Ihre Liebe glauben würden wie an die
Vorstellung, dass gewisse Dinge unmöglich sind, dann wäre sie in der Tat möglich.«
Nell schüttelte
störrisch den Kopf. »Ich hab's versucht. Ich kann es nicht noch einmal
versuchen.«
»Ich verstehe.«
In die Defensive
gedrängt, beugte Nell sich vor. »Was verstehen Sie?«
Er zuckte mit den
Schultern. »Wie ich sehe, haben Sie aufgehört zu weinen, Miss Nell. Sie
scheinen nun also die Botschaft Ihres Herzens zu kennen.«
Frustriert versuchte
Nell zu verstehen, was er meinte. Sprach der Mann immer in Rätseln?
»Alles, was ich
sagte, ist, das ich's versucht habe!«
»Ja, und dass Sie es
nicht noch einmal versuchen können. Die Botschaft ist ganz einfach: Sie haben
Angst.«
Nell sprang auf,
wollte sich verteidigen, konnte aber nicht.
»Miss Nell, ich weiß,
dass Sie das nicht hören wollen, aber ich betrachte Sie als eine verwandte
Seele und möchte nur das Beste für Sie. Deshalb sehe ich mich gezwungen, Ihnen
zu sagen, dass sich meiner Erfahrung nach hinter der Behauptung, etwas sei
unmöglich, oft Angst verbirgt. Überwinden Sie Ihre Angst, und das Unmögliche
wird möglich.«
Nell krallte sich in
ihre Röcke. »Ich glaube nicht, dass ich das kann.«
Ismail schaute sie
lange an.
»Ich habe meine
Entscheidung getroffen«, fuhr Nell fort. »Jetzt, wo die Kinder in Sicherheit
sind, muss ich gehen. Ich muss nach Hause.«
Er betrachtete sie
mit einem traurigen Lächeln. »Sie wollen ausreißen, Miss Witherspoon?«
»Ja. Ja, ich will
ausreißen.«
Und mit diesen Worten
floh Nell vor seinen wissenden Augen und seiner freundlichen, mitfühlenden
Stimme. Sie rannte durch den Gang und die Treppe hinauf und hielt erst an, als
sie in ihrem Zimmer Zuflucht gefunden hatte.
Und da stand sie und
wusste nicht, wie es weitergehen sollte.
36. Kapitel
Der Wind strich
heulend durch die hohen Tannen, fegte Blätter und Zweige über die Füße der
versammelten Vampire. Es war tiefe Nacht; lediglich ein paar kleinere
Lagerfeuer waren am Rande des
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