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Minerva - sTdH 1

Minerva - sTdH 1

Titel: Minerva - sTdH 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Chesney
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›Mylady‹ wünsche, daß sie am Anfang des Buches
zu lesen begänne. Es war Hugh Walpoles ›Das Schloß von Otranto‹.
    »Nein, Mädchen,
fang bei der eingemerkten Seite an. Seite 401.«
    Mit
düsterer Miene öffnete Annabelle das Buch. Es wäre so herrlich gewesen, von
vorne anzufangen, statt ein Stückchen am Ende zu lesen, wo man nicht wußte,
wer all diese Leute waren, oder was es mit ihnen auf sich hatte.
    Sie begann
mit klarer, lauter Stimme zu lesen, überzeugt davon, daß in Lady Wentwaters
Alter jedermann taub sein mußte.
    »›Was! Ist
sie tot?‹ schrie er in wilder Bestürzung.
    In diesem
Augenblick erschütterte ein Donnerschlag die Burg bis in die Grundfesten; die
Erde schwankte, und hinter ihnen erscholl das Geklirr einer Rüstung, die keinem
Sterblichen zu gehören schien. Frederic und Jerome glaubten, der Jüngste Tag
sei gekommen. Jerome, der Theodore mit sich zog, eilte auf den Hof. Sobald
Theodore erschien, stürzten die Burgmauern hinter Manfred – von mächtiger Kraft
zertrümmert – in sich zusammen, und aus den Ruinen tauchte in ungeheurer Größe
die Gestalt Alfonsos auf.
    ›Seht in
Theodore den wahren Erben Alfonsos!‹ sagte die Erscheinung.
    Und als er
diese Worte verkündet hatte, fuhr er unter Donnerschlägen gen Himmel, wo sich
die Wolken teilten und die Gestalt des Heiligen Nikolaus sichtbar wurde, der
den Schatten Alfonsos empfing, so daß beide bald den Blicken der Sterblichen in
einem Glorienschein entschwanden.‹« [1]
    Schnarchen!
    Annabelle
blickte auf und starrte Lady Wentwater fassungslos an.
    Sie
schlief.
    Wie war es
nur möglich, daß jemand bei einer so spannenden Geschichte einschlief!
    Annabelle
betrachtete gierig das Buch. Es schadete niemandem, wenn sie schnell die erste
Seite überflog.
    Ein früher
Winterabend senkte sich auf das verwilderte Grundstück und die Felder draußen
herab. Die Krähen flogen auf ihre Nistbäume, und die Schatten in dem muffigen
Raum wurden dunkler. Der aufkommende Wind heulte unter dem Dach.
    Plötzlich
ließ ein Geräusch Annabelle von dem Buch aufblicken.
Der Türgriff drehte sich ganz langsam.
    Langsam und
unter heftigem Knarzen der Angeln öffnete sich die schwere Mahagonitür zum
Salon.
    Eine große
Gestalt in einem Cape stand auf der Schwelle.
    Annabelle
fuhr sich mit der Hand an den Mund und stieß einen leisen Schreckensschrei aus.
Die Gestalt, die da bedrohlich im Halbdunkel aufragte, schien dem Schauerroman
auf ihrem Schoß zu entstammen.
    Und dann
bewegte sie sich aufs Kerzenlicht zu, in dessen Glanz sie sich nicht als
furchtbare Geistererscheinung offenbarte, sondern als großer junger Mann mit
einem offenen, sympathischen Gesicht, dessen hellbraunes Haar kunstvoll zu
einer Windstoßfrisur aufgetürmt war. Er war in einen sogenannten
›Garrick‹ gehüllt, ein Cape, das aus mehreren Stoffschichten übereinander
bestand. Als er es schwungvoll abnahm, wurde ein untadelig geschnittener,
flaschengrüner Rock über ledernen Kniehosen und weiche, glänzende Reitstiefel
sichtbar. Sein Jabot war so weiß, daß Annabelle blinzeln mußte.
    Er machte
eine vollendete Verbeugung. »Ich bin Guy Wentwater, der Neffe Ihrer Ladyschaft.
Gibt es Sie wirklich? Haben Sie einen Namen? Oder sind Sie eine Märchengestalt?«
    Ein
hübsches Grübchen erschien auf Annabelles Gesicht; sie stand auf und machte
einen tiefen Knicks.
    »Ich bin
Miß Annabelle Armitage. Ich habe Ihrer Tante vorgelesen, aber sie ist
eingeschlafen. Es ist sehr spät. Ich muß gehen.«
    In seinen
blaßblauen Augen war Spott zu lesen. »So schnell? Wir haben uns doch gerade
erst kennengelernt? Aber Sie entkommen mir nicht. Ich bleibe nämlich längere
Zeit bei meiner Tante. Da sie schläft, begleite ich Sie heim.«
    Er hob das
Buch auf und las amüsiert den Titel.
    »Zumal Sie
ohne Zweifel hinter jedem Busch Geister und Gespenster sehen werden.«
    »Ich lese
keine Romane«, sagte Annabelle geziert. »Ich habe lediglich Lady Wentwater die
Zeit vertrieben.«
    »Und dabei
ist sie so fest eingeschlafen? Kommen Sie, Miß Annabelle ...«
    Minerva wünschte, sie hätte sich bei der
Besichtigung der Kirche von Hopeminster nicht so lange aufgehalten.
    Die Straßen
waren eng und wegen der überhängenden Tudorgebäude dunkel; und als sie sich auf
den Weg zum Gasthaus machte, wurde es auch ohnehin bereits dunkel, obwohl es
erst halb vier Uhr war. Auf den Straßen drängten sich lärmende,
abenteuerlustige junge Männer.
    So ruhig
und ausgeglichen Minerva in ihrer vertrauten Umgebung

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