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Mingus

Mingus

Titel: Mingus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Keto von Waberer
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Ich schaue hinauf in den Himmel. Da kommt es her, Schnee, Schneeflocken, in wirbelnden Schwärmen, wie weiße Bienen, aber sie stechen nicht, wie die Bienen aus dem hohen Baum im Wald. Die haben mich so böse gestochen. Brennend heiße Stiche. Viele. Die hier sind kalt und leise, und doch kann ich spüren, wo sie meine Nase treffen, diese dicken weißen Bienen. Sie setzen sich auf mich, aber nicht für lange. Ich lasse sie auf meine Zunge fliegen.
    Es zieht mich hinaus, hinunter in den Hof, hinüber zu den Bäumen. Ich fühle meine Brust ganz eng werden, als wäre ich mit Stricken zusammengeschnürt. Es tut weh. Ich kann nicht hinaus. Ich weiß, dass ich nicht hinauskann. Vielleicht ist es ein böser Zauber. In diesem einen Buch können viele Menschen nicht aus einem Haus hinausgehen, obwohl sie das wollen. Sie wissen nicht, warum, aber es macht sie böse, und sie gehen aufeinander los. So geht es mir, ich weiß nicht, warum ich nicht hinauskann, und es macht mich so böse. Aber nicht böse auf Tara. Ich weiß nicht, warum Papa mir einfällt. Ich habe so lange nichtmehr an ihn gedacht. Ich sehe ihn vor mir stehen und mit einer Lampe in meine Augen leuchten. Er blendet mich. Ich schlage ihm das Ding aus der Hand. Ich bin so wütend, und ich rutsche ein Stück auf dem Bauch durch den Schnee und lege mein Gesicht in das weiße Kissen.
    Dann fange ich zwei Vögel, stopfe sie mir in den Mund, und das beruhigt mich ein bisschen.

BORIS
    Da ist er. Ein prächtiges Exemplar, ein völlig intaktes, gesundes, vitales Geschöpf. Sie heben seinen Kopf und zeigen seine Ohren, die zucken, obwohl sie ihn betäubt haben, zeigen seine Zähne, seine Augen unter den geschlossenen Lidern bewegen sich. Leichte Behaarung am ganzen Körper, goldbraun, in schönen symmetrischen Wirbelmustern. Sie heben seine Hand und zeigen seine herrlichen Krallen. Sie wollen ihn aufmachen, das ist klar.
    Ich stoppe die Kassette.
    Heizer hat ihn und Schorer natürlich, die Leibärzte unseres Erhabenen, seine verdammten Kloner. Beides keine brillanten Mediziner. Beides keine Genetiker. Ich habe sofort versucht, Druck auf meinen durchlauchtigsten Auftraggeber auszuüben. Ich sage: »Es ist unerlässlich für unsere Forschung, dass wir und nur wir bei Atox diesen Hybriden untersuchen.« Er sagt mir das zu. Das heißt, einer seiner Kontaktmänner sagt mir das zu. Ein Mann mit einer Stimme wie eine sprechende Schnecke. Aber ehe es so weit ist, lassen diese Idioten ihn entwischen. Es ist unglaublich. Ich brauche die Daten. Zum Teufel … Sollen sie ihn doch haben oder nicht haben oder ihn wiederfinden. Von mir aus können sie ihn auf der Flucht töten. Das, was mich trifft wie ein giftiger Pfeil ins Herz, ist etwas anderes. Ich weiß sofort, wer das Vieh gemacht hat. Er ist es. Es istLeo. Es kann nur Leo sein. Das ist seine Handschrift. Das ist es, was er erschaffen wollte, sein ganzes Leben lang wollte er nichts anderes. Eine Kreuzung aus Mensch und Tier. Die neue Rasse! Hat er mit cytoplasmatischen Hybrid-Embryonen gearbeitet?
    Und wessen Reste haben wir an diesem Regennachmittag so sorglos ins Meer gepfeffert?
    Ich sehe ihn sich über den Tisch beugen und auf mich einreden. Sein Wappenring mit dem Löwenkopf glitzert im Licht der Leselampe. Wir sind in seiner Bibliothek vor den schön geordneten Reihen seiner Bücher. Bücher waren schon damals längst verboten. All seine antiquarischen Schwarten zu Löwenmenschen. Die kitschigen Mythen aus längst verschütteten Kulturen. Er sah sich selbst als Löwe, seine spitzen Eckzähne, und wie er die bei jeder Gelegenheit bleckte. Ganz zu schweigen von seiner Mähne, rotgolden, hieß es in der Presse. Eitler Fatzke. Sogar am Anfang unserer Freundschaft, als wir beide noch so arm waren wie Kirchenmäuse und kaum Wasser zum Trinken hatten, in diesem Keller unter dem verlassenen Theater hat er seine Mähne – und er nannte das immer seine Mähne – gewaschen und gestutzt. Natürlich fällt mir Tara ein. Meine Tara. Und dann seine Tara. Seit Jahren habe ich nicht mehr an Tara gedacht. Ich habe sie bald nach unserem Bruch aus den Augen verloren. Das stimmt nicht. Ich habe nach seinem Tod nach ihr suchen lassen. Bis heute weiß ich nicht genau, warum. Gefunden habe ich sie nicht. Vielleicht ist das gut so.
    Ich sitze und schaue mir seinen Hybriden an. Wieder und wieder. Wo kann sich so eine Kreatur verstecken?Wo ist sie so plötzlich hergekommen? Vor allem, wo ist Leo?
    Draußen fällt der Schnee in dichten Vorhängen. Das

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