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Mingus

Mingus

Titel: Mingus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Keto von Waberer
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Er muss alleine kommen und mit uns verhandeln. Den Ort muss ich mir noch überlegen. Das ist nicht leicht. Wir werden ihn killen, diesen jahrhundertealten Tyrannen. Vorher müssen die Aristos für unsere Sache gewonnen werden. Das stelle ich mir ziemlich leicht vor, aber vielleicht täusche ich mich. Die Gayanerinnen werden mitziehen, wenn es erst mal so weit ist. Es gibt noch Reste von Compassionisten in der Stadt. Die müssen wir aktivieren. Alles muss genau geplant werden und dann … übernehme ich die Präsidentschaft. Wer sonst? Mama kommt draußen durch den tiefen Schnee und breitet die Arme aus, nach mir, ihrer Tochter. Bleib bei mir, Mama,sage ich. Hilf mir. Sie löst sich auf, eine kleine beschneite Tanne mitten im Feld.
    Neila von den Gayanerinnen ist gefährlich. Das weiß ich von Becky und Dora, unsere arme Dora, die leider im Kindsbett gestorben ist, letzten Sommer. Das Volk wird hinter uns stehen. Ich weiß natürlich nicht, ob sie mir, einer Aristo, trauen. Wir werden ihnen Mingus als neuen Präsi verkaufen. Als Geomessias – ein gutes Wort. Ein Wesen ganz ohne Partei. Ein unkorrumpierbares Wesen. Ein unbeschriebenes Blatt. Ein höheres Wesen. Vielleicht von einem anderen Stern? Wir müssen ihn ausstaffieren wie einen Gott. Den Krieg beenden wir als erste Amtshandlung, das wird allen gefallen. Die Ci-Po? Das ist ein technisches Problem. Lu und Baro brauchen nur einen einzigen funktionstüchtigen Rechner. Und dann – flupp. Die Aristos haben Rechner.
    Tag und Nacht überdenke ich den Plan. Er ist noch nicht ausgereift. Noch kann ich mit niemandem reden, schon gar nicht mit ihm. Er hat keine Lust, über meine Pläne zu sprechen. Das Volk, die Megacity, das Unrecht, das Regime sind ihm völlig gleichgültig. Er ist kein Mensch.
    Ich habe geglaubt, es würde mich abstoßen, dass er kein Mensch ist. Es würde mich langweilen, dass er kein Interesse zeigt für meine Ziele, für die menschliche Rasse. Ich glaubte, es würde mich ekeln, wie kopflos er das Leben genießt, es würde mich wütend machen, wie er sich mir entzieht. Aber nichts von alledem.
    Die Vorstellung, es könnte ihm etwas zustoßen bei meinen Planungen, nimmt mir den Atem. Die große Gefahr, in die ich ihn senden werde, verursacht mir Übelkeit.
    Wir könnten hier für immer zusammenleben. Er und ich. Er würde mir nach und nach erlauben, ihm näherzukommen. Wir könnten Kinder haben. Ich schäme mich für solche Gedanken. Ich verbanne sie sofort aus meinem Kopf. Das sind Träume, die meiner nicht würdig sind, und im Grunde weiß ich, dass es Ausflüchte sind, sentimentale Träume, um die Angst nicht zu spüren, Angst vor dem, was ich mir da vorgenommen habe. Ja, ich habe Angst. Aber das werde ich niemals zugeben. Schon gar nicht vor ihm.
    Es schneit wieder.
    Und da steht er am Fenster, kratzt seine Ohren mit beiden Pfoten und stößt dieses kleine helle Geknurre aus, das ich schon kenne. Es heißt, er freut sich seines Daseins. Es macht mich wütend, wie arglos er ist. Nach allem, was die Menschen ihm schon angetan haben, hat er nichts von uns begriffen. Er ist noch immer voller idiotischer Unschuld. Das ist ekelhaft. Ich hasse ihn dafür. Ich könnte ihn treten.
    Er bastelt an seinem Geisterhaus. Ein Haus für seine Ahnen, die er nicht kennt. Frieder hat ihn darauf gebracht und ihn mit in die Schreinerei genommen. Er hat sich das Geisterhaus bei den Krawitzens im Garten genau angesehen und es sich gemerkt. Er hat ein Gedächtnis, über das ich staune. Er will auch so ein Haus haben, sagt Frieder. Drei Figuren hat er schon geschnitzt. Kleine klobige Männchen, oder sind es Weibchen? Einer ist größer als die anderen. Ein fettes Tier mit Schnauze und Mähne. Er hat Bilder von Löwen gesehen in meinen Büchern. Er hat das Tier umständlich mit seinem eigenen Blut rot gefärbt. Jetzt ist es braun und fleckig.
    Ich lehne mich an seinen Rücken und lege die Arme um seine Brust.
    »Mingus«, sage ich, »jetzt ist keine Zeit zum Spielen. Du musst zu den Reusen. Jetzt gleich, ehe der Weg zuschneit.«
    Er schüttelt sich. Schüttelt mich ab. Ich stehe ihm gegenüber und hebe den Kopf, um ihm in die Augen zu sehen.
    »Küss mich«, sage ich.
    Er rührt sich nicht.
    »Hier, auf den Mund. Auf meinen Mund.«
    Er nähert mir seine Schnauze und atmet in mein Gesicht. Seine Augen ganz nah. Ich stelle mich auf die Zehen und drücke meinen Mund auf seinen Mund. Er wehrt sich nicht. Hält still, lässt es sich gefallen. Seine Zunge kommt heraus und fährt

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