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Mingus

Mingus

Titel: Mingus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Keto von Waberer
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und die schwarzen seidigen Haarbüschel dort, wo die Locken fast ganz den goldenen Vogel verdecken.
    Aglaia mag nichts hören vom kleinen Bruder, obwohl ich ihr alles andere erzählen muss. Jede Kleinigkeit, immer wieder. Sie quält mich damit.
    Die erste Erinnerung, die mir kommt, ist verwischt. Papa steht in der Tür und hält mir ein großes Stück Fleisch hin. Ganz frisch und rosig. Er sieht zu, wie ich meine Zähne hineinschlage und dabei knurre. »Langsam«, sagt er und lächelt. Ich habe ihn so selten lächeln sehen.
    »War er gut zu dir?«, fragt Aglaia. Immer stellt sie so komische Fragen. Ich weiß nicht, ob er gut zu mir war. Er war einfach Papa.
    Am allerlangweiligsten aber ist es, wenn Aglaia anfängt davon zu sprechen, wie man in der Stadt alles besser machen solle. Mich interessiert die Stadt nicht. Den Präsi habe ich noch nie gesehen. Ich habe die Oberstadt gesehen, wo die Aristos leben. Es würde mir gefallen, so zu leben. Aber hier gefällt es mir auch.
    Abends gehen wir oft zu Luis und Baro, das heißt, wenn nicht zu viel Schnee liegt und wenn das Windrad sich drehen kann. Sie haben ganze Kisten voller kleiner Scheiben, auf denen Bilder sind. Wir sehen sie an der Wand, wenn alle Kerzen ausgelöscht sind. Es gibt einen Schirm, so wie beim Pam, das ich bei den Krawitzens gesehen habe. Das Pam im Gartenzimmer. Ich sitze auf dem weißen Teppich, und Gonzo fragt, ob ich was sehen will, und ich habe gerade den Mund voll mit süßem Speck, und da ist das riesengroße Gesicht von diesem fetten Mann mit der komischen Nase, und ich lache und zeige mit einem Stück Speck auf ihn, und er sagt, er sagt, der kleine Bruder ist tot. Abgestürzt. Weg.
    Wir liegen herum im Haus von Luis und Baro, ein schönes Haus, mit all den ausgestopften Fischen und Kräuterbündeln, die von der Decke hängen. Wir liegen auf Fellen und schauen uns die »Lichtspiele« an. Lichtspiele nennt sie die kleine Elsa, sie tut nichts lieber, als da zuzusehen. Ich auch.
    Zoe kommt und legt mir ein paar aufgeknackte Nüsse aufs Knie. Sie weiß, wie gerne ich die habe. Sie selbst isst immer Nüsse und nie Fleisch. Sie sagt, Fleisch schmeckt nach totem Tier. Na und? Becky setzt mir die kleine Kiko auf den Schoß, und die hört sofort auf zu weinen und drückt ihr nasses Gesicht an meinen Hals. Mathilde fragt Irina, ob sie den Schal für mich fertig hat, den Schal aus der neuen Wolle, und dann hält sie ihn mir hin. »Sie hat Zaubermuster hineingewebt. Irina versteht sich auf so was«, sagt sie stolz, und Irina kichert und nickt.
    »Lasst ihn doch jetzt in Ruhe zuschauen!«, ruft Becky.
    Die Frauen mögen mich alle. Aglaia will neben mir sitzen, aber Balthasar kommt ihr zuvor. Die Männer mögen mich auch. Nur die Frauen sind viel schönere Menschen als die Männer. Jedenfalls die jüngeren von ihnen. Ich schaue ihnen gerne zu in unserer Schwitzhütte. Wie sie hereinkommen. Wie sie ein Tuch zurechtlegen und sich draufsetzen. Wie sie die Augen schließen und sich der Hitze hingeben. Wie sich ihre Haut langsam mit Schweißperlen überzieht. Wie sie seufzen und sich kratzen. Wie sie juchzen, wenn sie ins Eisloch springen, und wie rosig und zappelnd sie zurück aufs Eis schnellen.
    Aglaia will mich bürsten, aber das will ich nicht. Sie will mich an der Hand halten, wenn wir am Ufer stehen, aberich will das nicht. Nachts will sie sich zu mir legen. Aber ich sage ihr, ich kann nicht schlafen, wenn jemand so eng neben mir liegt. Sie wird böse und geht weg. Alle sehen, wie mich Aglaia behandelt, wie sie mit mir spricht, wie sie schaut, wie sie die Stirn runzelt, wie krank sie aussieht. Alle machen ihre kleinen Scherze darüber. Nicht vor Aglaia. Sie kann sehr wütend werden, und sie sagt dann Sachen, die wie Messer verletzen.
    »Du taugst zu nichts«, sagt sie zu mir.
    »Du bist ein Hohlkopf.«
    »Wir müssen dich durchfüttern.«
    Sie sagt auch, ich sei ein Feigling. Das ist nicht wahr, aber ich antworte ihr nicht.
    »Im Frühling bin ich weg«, sage ich. Das stopft ihr den Mund.
    Ich zeige ihr das Muster, das die Spuren der Tiere im Schnee machen. Ich zeige ihr, wie man einen Vogel rupft und einem Beuteltier die Haut abzieht. Ich zeige ihr, wie man sich einrollen muss, um gut zu schlafen, und wie man durchs Zimmer kriecht, ohne ein Geräusch zu machen. Ich zeige ihr auch, wie man laut brüllen kann, ohne sich dabei anzustrengen. Sie versucht es. Sie zeigt mir, wie man die Lippen spitzt und pfeift. Aber ich lerne es nicht.
    Immer wenn ich mit den

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