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Mingus

Mingus

Titel: Mingus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Keto von Waberer
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Volk das nicht, aber das ist der Anfang eines Umbruchs. Die Große Mutter ist dabei, das ganze verdreckte, verblendete, verkommene Land zu bekehren.«
    Verwirrung, Scharren, Jubelrufe und Fragen. Manche Frauen stehen auf und tanzen, andere schütteln den Kopf, einige zeigen Zweifel, viele lachen.
    »Er lügt. Er will bloß die Aufstände beruhigen!«, ruft Sophie.
    »Ruhe!« Neilas Haar löst sich auf, ihre Augen funkeln. »Ruhe, ihr Frauen! Wiesel berichtet es so: Auf der Jagd … ihr wisst ja, er war in Braxico, angeblich um die siegreichen Bataillone unserer Truppen höchstselbst zu beglückwünschen … wie wir alle wissen, war er zur Jagd, im Süden des Landes, ganz nahe an der Front. Bei ebendieser Jagd kam es zu einem Zwischenfall, sagt Wiesel:
    Der Präsi tritt morgens allein aus seinem Zelt, um auf einer blühenden Wiese, jawohl, blühenden Sumpfwiese, seine Morgen-Tornosen abzuturnen. Ein Augenblick, in dem er, wie alle wissen, von keinem gestört werden will. Er beginnt mit der großen Sonnen-Tornose, und da, aufeinem Felsen, mitten im Buschwerk, steht direkt vor ihm ein riesiger Löwe. Auge in Auge. Ja, er schaut ihm in die Augen, und er spricht: ›Bruder Menschenkönig‹, spricht er ihn an. ›Du bist ein Löwe wie ich. Du bist ein edles, herrliches Raubtier wie ich. Du bist ebenso schnell, so kraftvoll, so gewaltig, so königlich wie ich. Warum tötest du unsere Brüder und Schwestern? Das ist nicht königlich. Töte nicht aus Lust am Töten. Bruder Menschenkönig, sonst bist du nicht mehr einer von uns. Deine Macht wird zerbröckeln, du wirst …‹« Neila denkt nach. »Also, so ungefähr, den genauen Wortlaut habe ich jetzt nicht im Kopf, aber Wiesel hat ihn aufgeschrieben. Wiesel hat das aus einer todsicheren Quelle, sein Bruder ist bei den Jägern, die sind alle wie vor den Kopf geschlagen, sagt Wiesel. Keiner außer dem Präsi hat das Tier sprechen hören, geschweige denn gesehen. Als sie zum Präsi gerannt kamen, war er schon hingefallen, zwischen die blauen Schwertlilien …«
    Neila hebt beide Hände und wartet, bis das Geschrei sich legt. Die blauen Schwertlilien sind die Lieblingsblumen der Großen Mutter.
    »… hingefallen und rang nach Luft, war schon ganz grün im Gesicht, war am Ersticken. Sie hatten Schorer dabei, natürlich, den Medic, und der hat ihm einen Schnitt in die Kehle gemacht und ihm, so höre ich, mit einem Schilfrohr Luft eingeblasen, und, was soll ich euch sagen, der Präsi kommt wieder zu sich. Später im Zelt, mit verbundener Kehle … und er spricht! Ja, er spricht seine ersten Worte: ›Niemals mehr Tiere töten.‹«
    Es dauert eine Weile, bis Neila wieder zu Wort kommt. Ein Löwe? In Braxico? Wer soll das glauben?
    »Wiesel sagt«, ruft Neila, »Wiesel sagt, er habe Gerüchte gehört, es sei da ein Löwe aus dem Zirkus entlaufen. Irgendeine Provinzstadt, Subito oder so, wurde ja von den Truppen kurz und klein gebombt. Ein uralter Löwe, heißt es. Ein ur-ur-uralter Löwe, der kaum noch Zähne hatte …«
    »Menschen aber dürfen weiterhin gejagt und getötet werden, wie?«, ruft Tulip.
    »Alter Löwe ohne Zähne?«, fragt Daisy neben mir, stößt mich an und prustet los. Sie versucht auch Nin anzustoßen, aber Nin sitzt da, völlig erstarrt, und lauscht mit offenem Mund.
    »Sie suchen alles nach dem Löwen ab.« Auch Neila lacht jetzt laut. »Der ist nicht zu finden. Der Präsi will ihm eine Kultstätte bauen, dort auf dem Felsen. Er will ihn sehen, ihn umarmen, küssen, vor ihm knien. Das Tier ist fort. Viele sagen, es hat nie einen Löwen gegeben. Der Präsi hatte einen Anflug von Wahnsinn, oder aber jemand von den Feinden hat sich als Löwe verkleidet, ein Agent vielleicht, um den Präsi zur Strecke zu bringen. Vielleicht sogar ein Attentäter aus den eigenen Reihen. Ich aber sage, es war ein Satori, und ich bin ausnahmsweise der Meinung der Knollennase auf dem Avatar. Ein neues Zeitalter beginnt für die geliebten Kinder des Präsis, sagt er. Fragt sich nur, was die davon haben, das sagt Wiesel, aber ich sage, es ist ein Anfang. Gepriesen sei die Große Mutter.«
    Neila führt alle zurück in den Tempel. Ich aber gehe nicht mit und hocke mich vor das Feuer im Versammlungsraum, um das Ganze zu verdauen.
    Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieses Märchen stimmt. Neila ist zu fantasielos, um sich das auszudenken.Wiesel hat keinen Grund, uns einen Bären aufzubinden. Oder ist der Fleischklops wirklich doch total übergeschnappt?
    Ich bin aufs Äußerste

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