Mingus
beunruhigt.
MINGUS
Die Schneezeit dauert nun schon so lange. Das viele Weiß und die Kälte machen alle schläfrig, verfressen und langweilig, nur Aglaia nicht. Ich weiß nie genau, wie sie an diesem Tag aufwacht. Manchmal ist sie fröhlich und scherzt mit mir schon beim Frühstück. »Hast du Löwenhunger?«, sagt sie und zwinkert dabei, oder wenn ich hinausrenne, um mich im Schnee zu wälzen: »Da juckt einem das Fell.«
Ich bin es gewohnt, dass alle hier mich damit necken, dass ich kein Mensch bin wie die Übrigen. Aber Alan sagt, das sei gut so. Sie hätten mich aufgenommen in ihre Gruppe. Mir ist das gleichgültig. Ich weiß keine guten Scherze über Menschen. Ich sage vielleicht: »Es menschelt hier« in der Schwitzhütte, wenn ich ihren scharfen Geruch einatmen muss, und sie lachen gutmütig. »Heute wohl alle Katzenwäsche?«, frage ich dann. »Es ist doch nur ein Katzensprung!«, rufen sie mir zu und lachen, wenn ich hinaussoll in die Kälte, um Wasser zu holen für das Abendessen. Wenn sie durch die Tür zu Aglaias Wohnraum treten und mich dort liegen sehen auf den Fellen, halb eingeschlafen, und wenn ich dann hochkomme, mich strecke und ausgiebig gähne, bleiben sie stehen und glotzen, und einer flüstert dann sicher: »Die Höhle des Löwen.«
»Du passt nicht in sein Beuteschema, Aglaia«, sagt Hector, der Aglaia gerne ärgert. »Nichts zu machen!«
Sie kann nicht lachen über solche Sachen. Die anderen aber lachen.
An vielen Tagen ist Aglaia wortkarg und finster. Dann gehe ich ihr aus dem Weg. Sie riecht an solchen Tagen nach Angst. Ich kenne den Geruch von Angst. Vor mir hat sie keine Angst. Ich bin es nicht, der sie so unglücklich macht. Trotzdem habe ich Alan gesagt, ich will ins Männerhaus ziehen, wo er wohnt. Da ist es zwar lange nicht so sauber und warm wie in Aglaias Haus, aber Alan sagt, es wäre schon längst Zeit umzuziehen. »Diese Frau macht dich zu einem Weichling«, sagt er. Ich weiß nicht, was er damit meint, und ich habe Mühe, ihn nicht umzustoßen. Er hat es gar nicht gerne, wenn ich ihn umstoße.
Tagelang kann man keine Sonne sehen.
Ich schlafe. Ich stelle mir vor, der kleine Bruder kriecht zu mir unter die Decken und sagt: »Ich bin gar nicht tot.« Und wenn ich nicht richtig wach bin, gelingt es mir, ihm zu glauben.
An dem Abend, als Alan mir mein neues Bett zeigt, neben der Tür im Männerhaus, kommt Aglaia, den Arm voller Decken und Felle, und setzt sich zu mir, um mir zu zeigen, dass sie mir nicht böse ist. Aber sie ist wütend. Ich sehe es an der Falte zwischen ihren Brauen. Wenn sie könnte, würde sie knurren. Das habe ich ihr aber nicht so richtig beibringen können.
»Vielleicht ist es besser so«, sagt sie, aber ich glaube ihr nicht.
»Ich habe Großes mit dir vor«, sagt sie müde. Sie hatRinge unter den Augen. Alan macht mir hinter ihrem Rücken Zeichen, die ich nicht entziffern kann.
»Ist ja nur ein Katzensprung von hier bis zu deinem Haus, Aglaia«, sage ich. Aber sie lächelt nicht mal.
Becky reißt die Tür auf. Sie ist ganz voller Schnee.
»Ist einer gekommen«, schreit sie. »Ist einer angekommen. Sie haben ihn in der Schleuse. Er ist halb tot.«
»In der Schleuse?« Aglaia ist schon an der Tür. »Ihr habt den reingelassen, ohne mich? Ein Spion, ein Agent der Regierung! Seid ihr alle von Sinnen?«
»Keine Robos. Zu kalt«, sagt Becky, schüttelt den Schnee ab. »Frieder hat gesagt …«
»Was hat der zu sagen?«, schreit Aglaia und rennt durch den hohen Schnee.
»Der stirbt. Kein Funken Leben ist mehr in dem …«, ruft Becky ihr nach. Dann stehen wir da und schauen uns an.
»Los, den will ich sehen«, sage ich. »Endlich passiert mal was.«
Der Mann ist mit einem Schlitten gekommen. Tiere haben den gezogen. Sie wollen nicht in den Stall, sondern drängen sich zusammen unter dem Vordach, mit vom Schnee verklumptem Fell. Sie beäugen mich unruhig.
»Rentiere«, sagt Alan. »Seht ihr das lächerliche Geweih? Rentiere, keine Hirsche. Das sind diese Nachzuchtviecher des Präsis. Er hat ja ganze Landstriche mit denen besiedelt, zum Jagen. Ich kenne diese Nachzuchttiere. Hab allerdings lange keine mehr gesehen.«
Der Mann ist aus der Schleuse und liegt, in Felle eingewickelt,bei Mathilde und Irina auf der Krankenstation. Wir gehen ihn anschauen. Er hat braune Haut wie Becky. Seine Füße sind zusammengebunden, das will Aglaia so. Mathilde bindet sie dann heimlich los und zieht die Decke darüber. Der Mann sieht aus wie tot. Seine Wimpern aber
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