Mingus
das kann man sehen, sagt Aglaia. Er isst, er schläft, er keucht nicht mehr so beim Atmen.
Mir ist nicht erlaubt, ihn zu besuchen, aber Irina und ich verstehen uns gut. Sie lässt mich abends ein Stündchen zu ihm. Reden allerdings will er mit mir nicht. Er sagt, es ist wichtig, dass Aglaia Vertrauen zu ihm fasst. Sie will nicht, dass andere ihn verhören. Das, was ich von ihm weiß, hat Aglaia uns allen ganz offen beim Ratstreffen erzählt.
»Ein Glücksgriff, dieser Ubu«, sagt sie. Ganz so, als hätte sie ihn herbeigeschafft.
Es geht Ubu wieder schlechter. Er hustet und kann nicht sprechen. Aglaia bittet Mingus, ja, sie bittet ihn, das habe ich noch nie erlebt, sie bittet ihn mitzukommen, wenn sie nach Ubu sieht. Natürlich geht er mit.
Mathilde erzählt uns später, Ubu hätte sofort die Augen geöffnet, als Mingus ins Zimmer gekommen sei. Er sei ihm mit den Augen gefolgt, und als Mingus sich über ihn beugte, habe er die Augen geschlossen und gelächelt.
»Er hat noch nie gelächelt«, sagt Irina.
Aglaia habe zugesehen und immerzu genickt.
Er müsse ihn oft besuchen, habe sie zu Mingus gesagt.
Ich weiß nicht, was sie sich davon verspricht.
Mingus sagt, er wisse nicht, ob der Mann wieder gesund würde. Er sagt, man solle ihn in Ruhe lassen und ihm eine kräftige Fleischsuppe machen. So was bringe einen wieder auf die Beine, wenn man sich elend fühle. Er geht von sich aus. Ich sehe ihn noch die Fleischsuppe schlürfen, als wir Amas ihn bei uns versteckt hielten. Ich frage mich oft, was aus den Männern geworden ist.
NEILA
Die Große Mutter schweigt.
Man hat sie schwer beleidigt. Ihre Kinder, ihre Töchter, Jüngerinnen aus unseren Reihen haben sie geschändet.
Ich friere, und Sophie schläft neben mir. Es ist eiskalt im Tempel. Ich bete weiter. Auch Carla und Rieke beten neben uns, ich sehe ihre Köpfe andächtig gebeugt. Der Tempel knackt und bebt. Der erste Frühlingssturm dieses Jahr.
Unsere jungen Kriegerinnen sind seit zwei Tagen verschanzt im Scheunenbezirk. Wir haben beschlossen, sie auszuhungern, aber sie erhalten Unterstützung von außen. Man schmuggelt Nahrung und Wasser zu ihnen. Das macht mich sehr traurig. Ach, diese Frauen sind meine Töchter, und wir alle sind Töchter der Großen Mutter. »Gib uns ein Zeichen.« Ich verneige mich tief, obwohl mein Rücken schmerzt. Seit Tagen habe ich diese Schmerzen. Es ist qualvoll. Unsere Ärztinnen richten nichts aus mit ihrer Medizin. »Es ist die Seele«, sagen sie. Das weiß ich selber. Es ist schrecklich, dass ich fühlen kann, wie mich die Geduld verlässt, die Hoffnung, das Vertrauen.
Sophie wacht auf und kriecht näher zur Großen Mutter, wimmert. Im flackernden Kerzenlicht warte ich mit ihr auf ein winziges Zeichen der Großen Mutter.
Ich verneige mich und höre das Geschrei aus dem Männerhaus. Auch sie sind auf Diät gesetzt. Recht so. Hier wirdkein Profit geschlagen aus den Schwierigkeiten der Gemeinschaft. Eine harte Hand ist unerlässlich. Wie können sie es wagen?
Vielleicht sollten wir doch durchgreifen. Strafen verhängen. Wir könnten zum Beispiel die Deserteure aus der Gemeinschaft ausstoßen. Sie in Megacity aussetzen. Wir haben viele Deserteure aus der Truppe des Präsis. Und die, so höre ich, sind oft auch die Rädelsführer. Sophie meint, solch eine Drohung würde die Übrigen zur Vernunft bringen. Das gilt natürlich nicht für die Aristos und andere Beutemänner. Die setzen wir nicht frei. Sie wünschen sich nichts sehnlicher.
Tara sagt, sie weiß, dass Leo, ihr alter Gefährte, Leo, der Genetiker, sein Gold, viel Gold versteckt hat. Irgendwo im Wüstenring um Olvio, in seinen zerstörten Laboratorien. Dazu diese überaus wertvollen Unterlagen zur Embryonalforschung. Nin hat sich bei Tara verplappert, sagt sie. Nin weiß, wo alles liegt. Sie hat zugesehen, wie er es vergraben hat. Tara schlägt vor, alles zu bergen.
Der Ashram ist in höchster Gefahr. Ich würde triumphieren. Zurückgewinnen. Gold, wie viel Nahrung kann man mit Gold kaufen, wie viele Menschen könnte man damit bekehren. Wer sagt mir, dass die Große Mutter mir nicht dieses Gold schickt, in dem Moment, in dem unsere Gemeinschaft auseinanderzubrechen droht. Wertvoller noch sind die Unterlagen. Wer Menschen und Tiere kreuzen kann, ist Herrin dieser Welt. Blühende Zeiten kämen für die Gayanerinnen und das ganze Land.
Ich weiß nicht, ob ich Tara glauben kann. Ich weiß nicht, ob die Kleine lügt. Dieser große Genetiker wusste, wieman das
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