Mira und das Buch der Drachen (German Edition)
Augenblick an eine geheime Anziehungskraft auf ihn ausgeübt hatte.
Seit es dort in der verborgenen Nische war, konnte er nicht mehr richtig schlafen und begann sich sogar vor seinem eigenen Laden zu fürchten. Und doch – um nichts in der Welt hätte er es wieder hergeben wollen.
Er hatte es vor gut einem Jahr beim Ausräumen dieses Kellers gefunden. Einer seiner neuen Kunden, den er schon öfter in seinem ehemaligen Stammlokal, dem Blauen Pfau , gesehen hatte, hatte ihn darum gebeten. Und so fuhr Herr Gwiseck mit seinem Laster in die Silberne-Fisch-Gasse, die sich gar nicht weit weg von seinem Laden befand.
Es war ein dunkler Keller gewesen, mit alten, feuchten Mauern, das Untergeschoss eines schwarzen Hauses, von dem aus eine schmale Brücke über den Kanal zum Gehsteig führte.
Unter dem ganzen Gerümpel, das sich dort aufstapelte, war kaum etwas Wertvolles zu finden. Das einzig Interessante waren Zeitungen aus den Anfangsjahren des letzten Jahrhunderts, die aber zu Staub zerfielen, als er sie berührte. Schmutzige große Töpfe stapelten sich neben schweren bronzenenSchalen. Der Rahmen eines kaputten Spiegels stand neben einem alten Tierkäfig. Schon als er die Sachen in seinen Laster schleppte, wusste Herr Gwiseck, dass er kaum etwas davon verkaufen würde.
(Und er sollte recht behalten. Tatsächlich konnte er später nur einen hässlichen grauen Gartenzwerg mit abgebrochener Mütze zu einem lächerlichen Preis auf einem Flohmarkt losschlagen.)
Später konnte er sich nie erklären, warum er dann noch einmal in das Haus zurückgekehrt war. Wahrscheinlich war er von der geringen Ausbeute enttäuscht, vielleicht auch einfach nur neugierig. Aber vielleicht hatte er zu diesem Zeitpunkt auch schon diese Anziehungskraft gespürt. Gerade so, als würde ihm jemand befehlen, die Treppen hochzusteigen, weil dort etwas auf ihn wartete.
Herr Gwiseck betrat ein kleines Mansardenzimmer. Rechts neben dem Fenster befand sich ein großer Kamin voll kalter Asche. Buchstaben waren darüber in die Wand geritzt. Herr Gwiseck trat näher: Die Inschrift war in Latein: Tempus fugit! Die Zeit vergeht!
Er drehte sich um und es lief ihm kalt über den Rücken. Hier befand sich das, weswegen er hergekommen war. Es war ein Bild. Eine ungefähr einen Meter hohe und ebenso breite Tuschezeichnung, die in rahmenloses Glas gefasst war.
Ein so seltsames Bild hatte Herr Gwiseck noch nie gesehen. Es zeigte ein Treppenhaus. Nein, es zeigte mehrere Treppenhäuser, die aber alle zugleich existierten. Menschen gingen darin herum. Doch was für den einen der Boden war, war für den anderen die Seitenwand und für wieder einen anderen die Decke. Sah man von vorne auf das Treppenhaus, bewegtensich zwei Menschen aufrecht. Andere waren gekippt. Drehte man das quadratische Bild einmal um seine Achse, standen die Menschen, die zuvor gekippt waren, nun plötzlich gerade. Je mehr Herr Gwiseck auf das Bild vor sich starrte, desto mehr verwirrte es ihn. Nach einer Weile begriff er, dass sich die Menschen in dem Bild auf drei verschiedenen Ebenen bewegten. In jeder Ebene gab es Türen und einen Ausgang ins Freie.
Das Bild übte einen unwiderstehlichen Sog auf ihn aus. Fast als wolle es ihn in das Treppengewirr hineinziehen. Herr Gwiseck wandte mit fast übermenschlicher Anstrengung den Blick von dem Bild, nahm dann einen Vorhang vom Fenster und warf diesen – ohne noch einmal hinzusehen – darüber. Dann hängte er das Bild behutsam ab, trug es über die knarrenden Treppen durch das unheimliche Haus und verstaute es schnell in seinem Laster.
Herr Gwiseck stellte das Bild zu seinen anderen Schätzen in den geheimen Seitenraum seines Ladens. Stundenlang konnte er es anstarren. Es verwirrte ihn und zog ihn an. Die Menschen darauf wechselten, und auch die Landschaften, die durch die Türen zu sehen waren, veränderten sich mit den Jahreszeiten.
Manchmal befand er sich nachts in seinen Träumen selbst in dem Bild. Er ging die Treppen hinauf und sah andere Menschen Treppen steigen. Oft waren es die gleichen Gestalten, die plötzlich in seinem Laden aufgetaucht waren. Sie grüßten ihn aber nicht, sondern starrten ihn nur hochmütig und irgendwie wissend an. Als wäre er ihr Komplize.
Und so kam es, dass er auch heute Nachmittag kraftlos vor seinem großen Schreibtisch saß und spürte, wie das Bild, das nur von einem Vorhang getrennt hinter seinem Rücken hing,auf ihn lauerte. Er dachte mit Grauen an diesen alten Mann, der vor wenigen Tagen seinen Laden
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