Mira und das Buch der Drachen (German Edition)
dekorativ neben dem alten Schild aus. Trotzdem war das plötzliche Auftauchen dieser Köpfe etwas beunruhigend und natürlich nicht hinnehmbar.
Also stieg Herr Gwiseck, zunächst mit einem Schraubenzieher und einer Zange bewaffnet, auf seine Klappleiter und versuchte, den rechten der beiden Fischköpfe wieder von der Mauer zu entfernen. Doch an dem Steinornament waren keinerlei Schrauben oder Nägel zu erkennen. Auch klang der Fischkopf nicht hohl, als Herr Gwiseck mit den Fingerknöcheln an ihm herumklopfte. Nein, der Fisch war aus massivem Stein und hatte vollständig die graugrüne Farbe der Wandhinter sich angenommen. Es sah fast so aus, als wäre der Kopf aus der Hausfassade herausgewachsen . Herr Gwiseck wischte sich über die Stirn. Obwohl die Temperaturen unter null Grad lagen, begann er unter seiner Strickjacke zu schwitzen. Er stieg wieder von der Leiter, holte Hammer und Meißel und versuchte damit den Kopf abzuschlagen. Doch schon beim ersten Versuch rutschte er ab und schlug in die Mauer unter sich, von der ein Stück Putz abblätterte. Er versuchte es ein weiteres Mal, doch der Fisch blieb unversehrt. Beim dritten Mal schlug sich Herr Gwiseck auf die Hand und zog sich eine große blutende Wunde am linken Daumen zu.
Daraufhin stieg er schnell von der Leiter herab, verband seinen schmerzenden Daumen und versuchte nie wieder, die Fischköpfe zu entfernen. Fragte ihn jemand nach den auffälligen Figuren, dann sagte er, er habe sie bei einem Steinmetz bestellt. Ansonsten versuchte er so wenig wie möglich an sie zu denken und ihre Blicke zu meiden.
Seitdem die Fische über Herrn Gwisecks Eingangstür aufgetaucht waren, lief allerdings sein Geschäft besser: Gut gekleidete Leute kamen nun in seinen Laden. Sie sahen sich mit einem halb amüsierten und halb angeekelten Ausdruck auf ihren Gesichtern um.
Herr Gwiseck konnte sie nicht leiden. Es war ihm nämlich schnell klar geworden, dass sie den Laden nicht seiner Antiquitäten wegen besuchten. Sie fassten mit spitzen Fingern seine Ölgemälde an, prüften die Rückseiten der barocken Schränke und ließen ihren Blick über die Vitrinen schweifen. Damit sie nicht so auffällig wirkten, nahmen sie schließlich eine seiner Karaffen oder einen der Teller mit Goldrand aus dem Regal, ließen sich das antike Stück in Papier einpacken,warfen ihm achtlos einen Geldschein auf seinen Schreibtisch und verschwanden grußlos.
Dann bemerkte Herr Gwiseck, dass sich auch nachts Menschen in seinem Laden herumtrieben. Er hatte keine Ahnung, wie sie das bewerkstelligten, denn er sperrte jeden Abend sorgfältig ab, und er hatte sich zudem noch einen großen eisernen Riegel besorgt, der quer vor der Eingangstür lag. Trotzdem fand er morgens, wenn er den schweren Riegel beiseiteschob, Fußspuren auf dem Holzboden und geschmolzenen Schneematsch, der sich auf den Bodendielen verbreitete und dort hässliche schwarze Flecken hinterließ.
Tief in seinem Inneren wusste er, wonach sie suchten. Sie suchten nach jenem Ding, das er in seiner Kammer versteckt hatte. Das Herzstück seiner Sammlung, dessen Wirkungsweise er sich gar nicht erklären konnte. Dabei glaubte Herr Gwiseck nicht an unerklärliche Dinge. Die Magie, die er kannte, ging von Gegenständen aus. Herr Gwiseck hing an jedem einzelnen Gegenstand in seinem Laden. An manchen mehr und an manchen weniger. Und so gab es auch Dinge, von denen er sich nicht trennen mochte: die zierliche chinesische Dschunke mit den silbernen Ruderblättern, die sich hin und her bewegten, Taschenuhren mit winzigen Zahnrädern und eleganten Gravuren, Spieldosen, winzige Orgeln, Schlitten, die kleine Berge hinunterfuhren. Blecherne Autos, die einmal aufgezogen durch den Laden rauschten und erst am Fuß eines wuchtigen Vitrinenschranks gestoppt wurden.
Sie alle standen geputzt und gewienert in dunklen Eichenregalen in einem kleinen Vorraum des Ladens, wo es zu einer winzigen Toilette ging. Die Nische war mit einem großenroten Samtvorhang vom Laden abgetrennt, sodass diese Gegenstände von keinem der zufällig vorbeistreifenden Kunden gesehen werden konnten.
Hier waren sie also – Herrn Gwisecks Wunderwerke. Manchmal, wenn er ihnen den Rücken zudrehte, dann war es fast so, als wollten sie ihm etwas sagen. Als könne er aus ihrem Summen und Klickern, Scharren und Knirschen eine geheime Melodie heraushören, die nur für ihn bestimmt war.
Doch all diese Dinge waren unbedeutend im Vergleich zu dem, was dort noch an der Wand lehnte und vom ersten
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