Mira und das Buch der Drachen (German Edition)
schwarze Hexe ließ Mira nicht aus den Augen. »Wie recht diese ungebildete Krähe hatte. Diese Kugel kann dich tatsächlich vernichten. Nichts von dem, was du einmal warst, wird bestehen, wenn du sie benutzt. Du wirst anders sein. Verändert und nie wieder das Kind, das hier vor mir sitzt. Denn diese Kugel zeigt dir nicht nur den anderen Blick. Mit dieser Kugel kannst du auch durch die Augen des anderen sehen.«
»Und was ist daran gefährlich?«
»Das wirst du gleich sehen.« Die Hexe wischte mit ihren langen Fingern über die Kugel. »Du siehst nicht nur mit den anderen Augen. Nein! Du fühlst auch, was der andere fühlt. Du bist der andere!« Die Hexe machte eine kurze Pause, bevor sie weitersprach. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Ich werde dir nun meinen Blick auf die Welt schenken, Mira! Nur für ein paar Minuten.«
Mira versuchte wegzusehen, doch es gelang ihr nicht. Der Zwang, in die schwarzen Augen zu blicken, war stärker.
»So, Mira, so sehen dich die anderen!«
Da sah Mira in der Kugel die Blicke ihrer Freunde. Milena und Corrados Blick war misstrauisch und abschätzig. Der von Thaddäus gleichgültig. Der Drache betrachtete sie neugierig, als nützliches Werkzeug, um seine Pläne umzusetzen. Zugleich sah Mira sich selbst. Ungeschickt und plump. Schwitzend und klein. Mit einem linkischen Staunen. Einfältig und lächerlich. Sie sah die Blicke der Mäuse auf sich gerichtet. Und ihre falsche Bewunderung. Polly Lux, die sie lauernd beobachtete. Das Meerschweinchen, das sich mit ihr wichtig machte. Sie sah Hippolyts letzten verzweifelten Blick, als sie ihn über das Eis wegschickte, den bohrenden Blick Graumalkins und die vorwurfsvollen Steinaugen des Zwergs, dem sie ein Versprechen gegeben und nicht gehalten hatte. Und schließlich begegnete ihr Mirandas Blick. Miranda, die ihr nicht traute und glaubte, sie sei eine Verräterin.
Es zerschnitt Mira das Herz, sie alle so zu sehen. Jeder Blick war voller Misstrauen oder versteckter Wut. Setzte sie sich aus all diesen Blicken zusammen? Aber wer war sie dann selbst?
»Und nun fühle, was ich fühle!« Die Stimme der Hexe war ganz leise und dunkel und ihre Augen ruhten auf Mira.
Da spürte Mira einen namenlosen Kummer. Eine Kälte, die nicht mehr von ihr weichen sollte. Eine Traurigkeit, die sie sich größer gar nicht vorstellen konnte. Alles, was einmal gut gewesen war, war falsch und alle Liebe und Freundschaft bedeutungslos.
»So wirst du die Welt sehen, wenn du erwachsen bist«, flüsterte die schwarze Hexe.
»Nein!«, rief Mira verzweifelt. »Das ist nicht wahr!«
»Doch, das ist die Wahrheit!«, rief die schwarze Hexe. »Du hast nie zu den weißen Zauberern gehört und wirst auch nie zu ihnen gehören. Glaub mir, ich weiß, wie es ist, draußen zu sein und von niemandem verstanden zu werden. Es ist bitter. Bitter und einsam! Meinst du, ich weiß nicht, wie Hippolyt sich fühlt? Menschen wie wir sind immer die Letzten. Menschen, die nirgendwo dazugehören. Die weder das eine noch das andere sind. Immer wie durch eine Glasscheibe von allen getrennt.«
Mira zitterte. »Es gibt aber auch noch einen anderen Blick«, sagte sie schließlich mit leiser Stimme. »Es gibt den Blick der Liebe.«
»Der Blick der Liebe?« Die schwarze Hexe lachte auf. »Ja, das ist das, was sie euch Kindern immer erzählen. Eine Lüge, um euch zu beruhigen.« Die schwarzen Augen der Hexe füllten nun die ganze Oberfläche der Kugel aus.
»Lebe nicht mit dieser Lüge und schlucke deine Tränen hinunter, Mira! Werde stark, werde hart! Du musst dich schützen, nur dann kannst du diese Einsamkeit ein Leben lang ertragen! Du wirst merken, dass diese Härte deine Stärke ist. Und dann ...« Die Augen der schwarzen Hexe waren riesig. »Dann erst wirst du deine Stärke genießen. Hast du erst einmal die Liebe überwunden, wird dir nichts mehr etwas anhaben können. Nie mehr!«
»Nein«, rief Mira. »Nein!« Sie war blind vor Tränen und der Schmerz zerriss sie fast. Doch dann gelang es ihr, die Augen zu schließen. Die Spiegelungen in der Kugel verschwanden. Und mitten im Dunkel stiegen plötzlich Bilder aus ihrem Inneren nach oben.
Sie sah sich selbst als kleine Amsel in der Hand der Hexe Fa. Sie dachte an Miranda, die sich als Katze dem Sperber entgegengeworfen hatte, um sie zu retten. Sie sah Rabeus vor sich und spürte seine Anerkennung, als sie den Eingang zur Spur der Drachen entdeckt hatte.
Und sie erinnerte sich an Thaddäus, der ihr das Buch
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