Mira und der weiße Drache (German Edition)
beobachtete Mira, die mit offenem Mund in das Feuer starrte. »Und das – glaube mir – wäre nun wirklich kein Vergnügen.«
Eine lange Stille trat ein. Das Feuer knisterte im Kamin und von draußen hörte man den Ruf eines Käuzchens.
Mira lehnte sich in dem Sofa zurück und blickte zum Fenster. Draußen färbte sich hinter den Gleisen der Himmel, und ein hellblauer Streifen wurde sichtbar. Bald würde der Morgen anbrechen.
Mira dachte an ihr Zimmer bei Tante Lisbeth. Es schien so unendlich weit weg zu sein. Im Kamin glimmte noch die Glut, und Mira erinnerten die roten Punkte an winzige stechende Augen, die sie in der Dunkelheit beobachteten. Die Hexe Fa kratzte sich am Knie, dann rappelte sie sich etwas mühsam aus ihrem Sessel hoch. »Miranda, du bringst unsere kleine Freundin nach draußen und dann kannst du hier schlafen! Ich mache dir dein Bett oben auf dem Ofen.«
»Aber«, fragte Miranda, »was wird jetzt aus dem Buch?«
Die Hexe Fa krempelte die Ärmel ihres Oberkleides hoch und richtete sich auf. Die gebückte Haltung hatte sie verlassen, und mit einem Mal sah sie sehr mächtig aus. »Mischt euch nicht weiter in die Sache ein. Das ist nichts für Kinder. Ich werde das Buch suchen gehen.«
Mira und Miranda wechselten einen schnellen Blick.
»Und dir gebe ich einen guten Rat«, sagte die alte Hexe leise zu Mira, als diese sich langsam und gähnend vom Sofa erhob. »Was auch immer geschieht, du darfst dich auf gar keinen Fall wieder verwandeln!«
»Und warum nicht?« Mira sah enttäuscht zu der Hexe auf.
»Wie willst du denn dann wieder ein Mensch werden?«, fragte die Hexe Fa und sah Mira lange an. »Es wird dir nicht immer jemand mit Zauberkraut helfen können.«
Mira schluckte. Daran hatte sie gar nicht gedacht.
Wie komme ich denn dann nach Hause?«, fragte sie enttäuscht. Oh, wie sehr hatte sie sich schon darauf gefreut, wieder zu fliegen!
»Das werde ich dir gleich zeigen«, antwortete die Hexe.
Kurz darauf traten die drei vor die Tür und standen in dem verwilderten Garten der Hexe Fa. Der Himmel im Osten war schon hellblau und am Horizont färbte er sich in einem hellen Gold.
Mira drehte sich um. Hier – im Westen – war der Himmel noch dunkel und ein paar ermattende Sterne glänzten an ihm. Sie spürte die kalte Morgenluft, die sie nach der engen und überheizten Küche frösteln ließ. Der Wind schien günstig zu sein, und neidvoll blickte Mira zu den Vögeln, die sich von ihm tragen ließen. In ihren Armen kam ein Kribbeln auf, und sie kämpfte gegen den brennenden Wunsch an, sich zu verwandeln und mit den Vögeln mitzuziehen.
Die Hexe Fa nahm eine Leiter vom Kirschbaum und lehnte sie an die schiefe Außenwand ihres Häuschens. Sie raffte ihre Röcke und kletterte erstaunlich behände auf das Dach.
Der Wind fuhr der Hexe durch das lange, weiße Haar, während sie sich am Kamin festhielt, aus dem eine dünne, schwarze Rauchsäule in den Himmel stieg. Nach einer Weile hörte man ein Surren auf den Gleisen. »Macht euch bereit«, rief die Hexe. Miranda zog Mira zu dem kleinen Tor am Gartenzaun, das sich quietschend öffnete. Dann liefen sie durch eine Wasserpfütze zwischen Brennnesseln und Brombeerranken, die Miras Arme zerkratzten, zum Gleis. Jetzt konnte Mira auch schon den Zug heranfahren sehen. Sie beobachtete, wie die Hexe Fa auf dem Dach ihren Arm hob.
Die Lok bremste und der Zug kam dicht hinter dem Garten zum Stillstand. Miranda öffnete die Zugtür und Mira schlüpfte schnell hinein.
»Sehen wir uns wieder?«, fragte Mira leise, bevor sie die Tür hinter sich schloss. »Keine Bange, du siehst mich schneller, als du denkst!«, erwiderte Miranda. Und Mira war es fast so, als würde die kleine Hexe ihr zublinzeln.
Als sich der Zug in Bewegung setzte, sah Mira, wie Miranda, deren Haare im Morgenlicht aufloderten, in der Landschaft immer kleiner wurde.
Bald konnte sie sie nur noch als einen kleinen roten Punkt zwischen gelben und braunen Laubbäumen erkennen, bis sie ganz verschwand.
Der Zug fuhr durch die Herbstlandschaft, bahnte sich seinen Weg durch den weißen Nebel, der aus den Wäldern und Wiesen emporstieg, und brachte Mira zurück nach Schwarzburg.
11. Kapitel
in dem Frau Fingerhut getröstet wird
Mira schaffte es tatsächlich, wieder ins Haus zu schlüpfen, ohne dass Tante Lisbeth etwas von ihrem Wegbleiben bemerkte.
Nur wegen des durchwühlten Zimmers bekam sie Ärger.
So verbrachte sie den ganzen nächsten Tag mit Aufräumen, Putzen und Kehren. Sogar die
Weitere Kostenlose Bücher