Mirad 01 - Das gespiegelte Herz
schlafen können. Dormund hat geschnarcht wie ein Bär und außerdem…« Er verstummte.
»Was?«
»Ergil hat mich gestern erst spät zum Zug kommen lassen.« Sie hob ein Sieb aus dem Topf, li e ß es gründlich abtropfen
und hängte es über die Asche am Rand der Feuerstelle. Danach ging sie zu Twikus und nahm seine Hände.
Ihm wurde heiß. Im Licht der Morgensonne, das in armdicken Strahlen durch die runden Fensterchen flutete, erschien ihm Múrias eb e nmäßiges Gesicht wie aus Alabaster geformt. Der Ausdruck darin war jedoch streng. Zwei atemberaubend blaue Augen nahmen ihn ins Visier.
»Wobei hat er dich denn ›zum Zug kommen lassen‹?«, erkundigte sie sich.
Der Prinz wich ihrem brennenden Blick aus. »Äh… das ist…
nur so eine Redensart.«
»Meinst du, ich kann Ausflüchte nicht von einer ehrlichen
Antwort unterscheiden? Raus mit der Sprache, junger Mann!«
»Naja… Gestern hatte ich nicht so viel von dir.«
»Schau mich bitte mal an, Twikus.«
Das war ein typischer Ammenbefehl, viel zu ernst, um sich ihm zu widersetzen. Twikus gehorchte und wartete mit angehaltenem Atem.
»Findes t d u mic h hübsch?«
Ein Blitzschlag hätte nicht überraschender kommen können als diese unverblümte Frage. Twikus begann zu schwitzen.
»Äh…«
» A ls o ja?«
»Du…« Er fasste sich ein Herz. »Du bist das wunderbarste Geschöpf von ganz Mirad.«
Múria straffte die Schultern. »Siehst du, das ist das Problem mit euch Mannsbildern.«
»Wi e bitte?«
»Ihr schaut bei den Mädchen immer nur aufs Äußere: das Gesicht , d ie Haare, die Gestalt, die Brüste… Du brauchst nicht rot zu werden, Twikus. Mich treffen solche Blicke ständig.
Erst gestern war da so ein Bursche mit seinem Weib. Ihr ging es ganz fürchterlich, aber er hat nur mich angeglotzt. Ich ignorierte ihn. Das gef i el ihm nicht. Irgendwann wurde er wütend. Mir ist so ein Verhalten sattsam bekannt, Twikus. Aus seiner Bewunderung wurde Neid. Und aus dem Neid Unzufriedenheit. Warum sieht mein Weib nicht so aus wie die?, hat er sich vermutlich gefragt. Als er versuchte, mir galant zu kommen, habe ich mich auf die Seite seiner Frau geschlagen. Da begann er mich zu verachten. Vermutlich nennt er mich jetzt eine Kräuterhexe, wenn er mit anderen über mich spricht. Kannst du dir das vorstellen?«
»Äh … schon.«
»Nein, ich meine, kanns t du dir vorstellen, selbst so zu handeln? Könnte dich das Äußerliche so sehr blenden, dass du keinen Gedanken mehr an die verborgene Person des Herzens verschwendest? Vielleicht bin ich ja wirklich eine Hexe. Ob das dem Schwerenöter gefallen hätte?«
Das Gespräch hatte einen Verlauf genommen, der Twikus überforderte. Er starrte nur in das uralte und doch unerklärlich junge Gesicht.
Múria übte einen sanften Druck auf seine Hände aus und befahl streng: »Sage mir, wer ich bin, Twikus.«
»Wa s sol l ich…?«
» G estern hast du damit geprahlt, ein Durchdringer zu sein. Also dürfte es dir nicht schwer fallen, mich zu entlarven. Bin ich nun eine boshafte Hexe oder eine mitfühlende Heilerin?«
Sein Herz raste, als wäre er auf der Flucht. Und irgendwie wa r e r da s j a auc h. Múria wirkte mit einem Mal gebieterisch. Obwohl sie ungefähr gleich groß war wie er, kam sie ihm wie eine Riesin vor. Spielte sie mit den Künsten der Sirilim oder bildete er sich das alles nur ein? Er versuchte dagegenzuhalten, in der Berührung ihrer Hände zu lesen, aber es gelang ihm nicht. Schließlich schüttelte er den Kopf.
»Ich kann es nicht sagen.«
Sie nickte. »Das habe ich befürchtet.«
»Wa s meins t d u damit?«
»D u bis t z u alt.«
Er schnappte nach Luft. »Ich bin erst sechzehn!«
»Eben. Die Sirilim erle r nen den Gebrauch ihrer Gaben wie ein Kind seine Sprechfähigkeit. Hast du je über dieses Wunder nachgedacht, Twikus? Die Allerkleinsten, die noch keine Sprache beherrschen und das Gehörte mit Vertrautem vergleichen können, lernen Worte, als würden diese in ihrem Geist aus dem Nichts entstehen. Genauso ist es bei den Sirilim, wenn ihre Fähigkeiten in ihnen erwachen. Sie sind zwei, drei Jahre alt. Aber nicht sechzehn.«
Die akzentuierte Wiederholung seines Alters traf Twikus wie ein eiskalter Regenguss. »Dann werde ich nie…?« Ihm versagte die Stimme.
Sie sah ihn mitleidsvoll an. »Es sei denn, ein Wunder geschieht. Schon deine Mutter hegte Zweifel, ob ihre Söhne überhaupt die Gabe ihres Volkes besäßen. Na gut, ihr wart Sirilim - Zwillinge, aber sonst schien
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