Mirad 01 - Das gespiegelte Herz
auf deine Erziehung. Sie werden es schon verkraften.«
Falgon stieß ein unwilliges Grunzen aus, verzichtete aber auf weitere Einwände.
Man könnte glauben, die Häuser seien Papierlaternen.
Twikus zuckte zusammen. Ergil! Musst du mich so erschrecken!
Tut mir Leid, entschuldigte sich die Stimme in seinem Kopf, aber ich habe vor lauter Staunen ganz vergessen, mich zum Rapport zu melden. Sind wir in der Sonnenstadt? Es muss die Sonnenstadt sein. Je stärker es dämmert, desto mehr leuchten die Gebäude. Könntest du für mich bei dem Haus da drüben ein bisschen Farbe von der Wand kratzen?
Sons t g e ht es dir noch gut, was? Twikus ärgerte sich insgeheim, dass sein Bruder wie selbstverständlich wusste, wo sie sich befanden.
Warum sind wir hier?, fragte es in seinem Kopf.
Twikus fasste die Ereignisse des Tages für seinen Bruder zusammen. Dabei versuchte er die peinlichen Passagen der morgendlichen Unterhaltung mit Múria wie gefährliche Klippen zu umschiffen, aber Ergil durchschaute diese Taktik und hakte unerbittlich nach. Erstaunlich gefasst nahm er Múrias Einschätzung auf, er sei zu alt, um die Gaben d er Sirilim zur vollen Entfaltung zu bringen.
Du hoffst ja nur, dich um den Kampf mit Wikander drücken zu können, kommentierte Twikus die mangelnde Empörung seines Bruders.
Wäre das so schlimm?, entgegnete Ergil. Ja. Weil nur der Feigling Reißaus nimmt.
Ni c ht jeder taktische Rückzug ist eine Kapitulation.
Hört, hört! Ausgerechnet du willst mir etwas über die Kunst der Kriegführung erzählen. Du versteckst dich doch nur hinter deinen gescheiten Worten.
Und du hinter deiner vorgeschützten Tollkühnheit. Heute
Nacht ist dir ebenso wie mir das Herz in die Hose gerutscht.
Sag bloß…?
Ja. Ich habe die schwarze Lohe über der Sooderburg gesehen. Und ich konnte deine Furcht fühlen. Im Gegensatz zu dir verachte ich meinen Bruder nicht dafür.
Das tue ich auch nicht. Es ist nur… Twikus breitete, nach Worten ringend, die Hände aus, bemerkte Múrias amüsierten Blick und ließ sie rasch wieder fallen.
»Hast du ihm von unserem Gespräch heute Morgen erzählt?«, fragte sie.
»Ja«, gab er kleinlaut zurück.
»I n allen Einzelheiten?«
»Ich kann Ergil sowieso nichts vormachen.«
»Das scheint dich zu stören.«
Twikus schwieg, weil ihm keine Erwiderung einfallen wollte, die Ergil nicht verletzt hätte.
Unvermittelt hörte er aus Múrias Richtung ein gezischtes »Nac h links!«.
Kavitha verschwand mit ihrer Reiterin überraschend und fast geräuschlos in eine enge, ungepflasterte Seitengasse. Twikus riss an den Zügeln und ließ Feuerwind die Verfolgung der Schimmelstute aufnehmen.
»Was ist denn los?«, rief er nach vorn.
»Hast du nicht das Mondgesicht gesehen? Bleib einfach dicht hinte r mir.«
Twikus wandte sich um und konnte gerade noch erkennen, wie Falgon und Dormund an der Mündung der Gasse vorbeiritten. Der Waffenmeister hatte Seltensund zwar zuletzt vor etwa zwölf Jahren besucht, aber er kannte sich hinreichend in der Stadt aus, um den Goldenen Anker auch ohne Führerin zu finden. So hatten sie es beim Ritt ins Tal abgesprochen, falls Múria etwas Verdächtiges entdeckte.
Ein Mondgesicht? Twikus war unbegreiflich, wie Múria aus hunderten von Leuten einen Spion hatte herauspicken können, und im Augenblick konnte er sie auch nicht danach fragen.
Kavithas Schweif verschwand gerade wieder in einer Nebengasse.
Du warst abgelenkt, meldete sich erneut Ergils Gedankenstimme.
Ach! Und du hast aufgepasst, was?
De r fe t te Kerl mit dem Teiggesicht auf dem gescheckten Gaul war schwer zu übersehen.
Das sagst du jetzt nur, um dich wichtig zu machen.
Hast dir wahrscheinlich gewünscht, du könntest mir einen anderen Körper beschaffen, damit du mich endlich los bist Wusstest nur nicht, wie du das deiner Lehrerin erklären konntest.
Red keinen Unsinn.
Also stimmt es.
Das ist jetzt wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, Ergil! Twikus beugte sich dicht über Feuerwinds Hals, weil in Kopfhöhe immer wieder Hindernisse auftauchten – im g ünstigsten Fall Wäscheleinen und im schlimmsten niedrige Torstürze. Hinter sich hörte er ein Wiehern. Irgendjemand folgte ihnen und er schien sein Pferd mit schmerzhaften Mitteln zu äußerster Eile anzuspornen.
Múrias nachtblauer Mantel flatterte vor Twikus wie eine Orientierungsfahne, die er nicht aus den Augen verlieren durfte. Die Herrin der Seeigelwarte schlug immer wieder unerwartete Haken. Auf seinem großen, weniger
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