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Mirad 01 - Das gespiegelte Herz

Mirad 01 - Das gespiegelte Herz

Titel: Mirad 01 - Das gespiegelte Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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fünf – Múria hatte sich den drei Männern und Schekira angeschlossen – ließen gerade den letzten der zwölf Katarakte hinter sich. Wie gigantische Treppenstufen überwanden die Wasserfälle einen Höhenunterschied von annähernd sechstausend Fuß. Nahebei schlängelte sich die befestigte  Straße ins Tal. Zahlreiche Reisende eilten stadteinwärts, um noch vor Einbruch der Dunkelheit in den Schutz der Mauern zu gelangen.
    Twikus konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass den Leuten seine Haarfarbe herzlich egal war. Sie kümmerten sich hauptsächlich um ihren jeweils nächsten Schritt, denn das nasse Granitpflaster war, obwohl rau, sehr schlüpfrig. Hohe Nadelbäume hatten ihm beim Talritt nur hin und wieder einen Blick auf das tosende Wasser gestattet. Die Luft war gesättigt von der Gischt. Wie durch dichten Nebel sah er einen Regenbogen, den die tief stehende Sonne in eine Lücke zwischen den Baumwipfeln malte. Der Nachmittag war wie im Flug vergangen. In weniger als einer Stunde würden sie Seltensund erreichen und sich eine Unterkunft für die Nacht suchen. Vielleicht waren ja im Goldenen Anker noch ein paar Pritschen frei.
    Múria hatte den »Kriegsrat« zum schnellen Aufbruch gedrängt. Niemand erhob mehr Einspruch dagegen. Twikus war sich anfangs im Unklaren darüber gewesen, was ihren Worten einen solchen Nachdruck verlieh. Keine Frage, ihre Argumente klangen überzeugend: Fast stündlich wachse die Bedrohung durch brandschatzende Steppenländer, tollwütige Fiederfische und womöglich sogar ein nach Norden vorrückendes Grondfolkheer – jeder verstrichene Tag sei ein verlorener Tag. Aber nicht allein die Scharfsinnigkeit dieser Frau verlieh ihr eine natürliche Autorität, die, obwohl leise, ja, in ihrer Art geradezu bescheiden, jeden Widerspruch aus männlicher Eitelkeit oder anderen nichtigen Gründen als hohles Geplapper entlarvte. Múria konnte gebieterisch sein, wirkte aber nie herrisch. Twikus traute ihr zu, eine Armee zu befehligen, ohne ein einziges Mal die Stimme zu erheben. Neugierig lugte er zu ihr nach rechts.
     
    Sie hatte ihr Kleid gegen Hosen und Wams getauscht, beides aus weich fallendem, nachtblauem Rauleder. Da r über trug sie
    – ebenfalls in der Trauerfarbe der Sirilim – einen samtenen, langen, sich immer wieder im Wind bauschenden Mantel mit einer Kapuze auf dem Rücken. Eine silberne Spange hielt den weiten, ärmellosen Umhang am Hals zusammen. Sie saß wie ein Mann auf ihrer Schimmelstute: breitbeinig, aufrecht, würdevoll…
    »Worüber denkst du nach, mein Lieber?«, fragte sie unvermittelt. Ihr Blick blieb weiter geradeaus gerichtet.
    Twikus fühlte sich ertappt und richtete seine Augen rasch auf den Eisvogel, der zwischen Feuerwinds Ohren hockte.
    »Über… äh… alles Mögliche.«
    »So, so.« Sie schmunzelte und schwieg drei, vier Atemzüge lang. Nur das Geklapper der Hufe war zu hören. Dann hob sie den Arm und deutete talwärts. »Zur Abwechslung könntest du ja einmal dorthin schau e n.«
    Er blickte in die bezeigte Richtung. Zwischen den Bäumen hatte sich eine breite Lücke aufgetan und darin sah man vor dem dunstigen Blau des Grotwallmassivs eine strahlend gelbe Stadt. Twikus öffnete den Mund, bekam vor Staunen aber kein Wort heraus.
    » M an nennt sie auch die Sonnenstadt«, erklärte Múria.
    Twikus blinzelte benommen. Das Bild der golden schimmernden Häuser kam ihm irgendwie falsch vor. Zwar ragte im Westen der Stadt kein Gebirge auf, das die Abendsonne verhüllen konnte, aber selbst da, wo S c hatten sein müssten, war Licht.
    »Nur eine weitere Maskerade«, fügte Múria abschätzig hinzu. Damit trug sie nicht eben zum Verständnis des seltsamen Phänomens bei. Twikus sah sie fragend an.
    »Farbe«, erläuterte sie.
    »Wi e bitte?«
    »Was so aussieht, als lache die Sonne auf die Stadt herab, ist in Wirklichkeit nur Schminke.«
    »Aber es sieht so echt aus!«
    »Das ist ja der Zweck jeder Augenwischerei.«
    »Warum hat man alles mit dieser gelben Tünche angemalt?«
    »Weil die Hauptstadt des Stromlandes nicht gerade von der S onne verwöhnt ist. Vor zwei Jahrhunderten lebte in Seltensund ein einfallsreicher Alchemist namens Bromius Bromanus, der sich unsäglich an den Wolken störte, die zweihundert Tage im Jahr über der Stadt verweilten, um sich hier ihrer feuchten Last zu entledigen, bevor sie weiter über den Grotwall nach Osten zogen. Das trübe Wetter drückte auf sein Gemüt. Deshalb, so wird erzählt, erfand er eine Farbe, die den

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