Mirad 01 - Das gespiegelte Herz
vergessen geglaubte Glücksmomente. Er hörte ihre weiche Stimme, wenn sie ihm alte Geschichten erzählte, ihren leisen Gesang, wenn er nicht schlafen konnte, ihre Tröstungen, wenn kindliche Traurigkeit ihn überkam. Es war wie ein Traum, der den Augenblick auf die Länge vieler Tage dehnte.
Das Trommeln der Hufe entfernte sich in ebenjene Ri c htung, die zuvor Kavitha, Feuerwind und Schekira eingeschlagen hatten. Bald versank es ganz in dem allgegenwärtigen Geräuschbrei, der in sämtlichen Gassen Seltensunds brodelte. Die vier Reiter hatten ihnen keine Beachtung geschenkt.
Múria öffnete ihren Ma n tel und Twikus löste sich, langsam wie ein Faultier, aus ihrer Umarmung.
»Alles in Ordnung, mein Lieber?«
Er nickte, immer noch benommen von der seltsamen Vision aus seiner Vergangenheit. »Was… ist da eben passiert?«
»Ich habe versucht uns zu verbergen.« S ie lächelte wie ein
Mädchen, dem gerade sein erster Kuchen misslungen war.
»Eine Sirila hätte es mit Sicherheit geschickter angestellt. Geht e s di r wirklic h gut?«
Anstatt zu antworten, steckte er sich den Zeigerfinger ins Ohr und schüttelte die Hand.
Sie hob das Kinn, musterte ihn über die Nasenspitze hinweg und ließ den Kopf wieder sinken. »Du hast es also bemerkt.«
»Was?«
»Ein Rauschen oder Zischen? Nicht jeder empfindet die Verwerfungen der Zeit gleich.«
»Die … was?«
»Ich habe uns in die Vergangenheit zurückgeschoben, ziemlich stümperhaft, nehme ich an. Aber es dürfte gereicht haben, das Mondgesicht und seine Kumpanen zu täuschen. Sie haben bestenfalls einen Schatten in der Nische gesehen.«
Twikus blickte nach oben, wo der Rundbogen des Alkovens ihn überdachte. Er hörte die Stimme seines Bruders, die ihn dazu drängte, endlich auszusprechen, was ihnen offensichtlich beiden zu schaffen machte. »Meisterin?«
Sie runzelte die Stirn. »Was sind das für neue Töne?«
»Ich möchte mich entschuldigen.«
»Hast du denn et w as getan, das den Aufwand lohnt?«
»Ergil und ich glauben schon.«
»Da s kling t ernst.«
»Wir haben uns in dich verliebt.«
Ihre Augen wurden schmal. »Ich dachte, mit dem Thema wären wir durch.«
Er berichtete ihr von dem Schwindel erregenden Moment unter dem Umhang, von seinen Empfindungen und Erinnerungen und schloss endlich mit den Worten: »Du bist für uns immer noch die schönste Frau der Welt und wir lieben dich nach wie vor, aber du bist unsere Amme.«
Sie breitete die Arme aus und drückte den etwas hölzernen jungen Mann an ihre Brust. »Ihr müsst euch nicht dafür entschuldigen, euer seelisches Gleichgewicht wiedergewonnen zu haben. Ich bin froh, dass ihr endlich zu dieser Einsicht gekommen seid. Und noch viel mehr bewegt mich das Wiederaufleben eurer Erinnerung. Das ist ein hoffnungsvoller Anfang für eine Meisterin.« Sie hatte das letzte Wort mit einem neckenden Unterton ausgesprochen, schob Twikus auf Armeslänge von sich und sah ihm fest in die Augen. »Es wäre mir aber doch lieber, wenn du Múria oder Inimai zu mir sagen würdest.«
»Wie hat dich meine Mutter genannt?«
»Für sie war ich ihre ›kleine Schwester.‹«
»Dann bist du meine Muhme.«
»O bitte nicht! Das klingt so… alt.«
»Aber du bist doch…«
»Sag jetzt nichts Falsches, junger Mann!«
»Entschuldige. So habe ich das nicht gemeint.«
Ihr strenger Ausdruck wich einem Lächeln. Sie küsste Twikus auf die Stirn und gab ihn endgültig frei. »Das weiß ich, mein Lieber. Übrigens ist man so alt, wie man sich fühlt – scho n gehört?«
Er zuckte die Achseln.
Múrias Stirn kräuselte sich. »Hat der gute Falgon dir eigentlich noch etwas anderes als Bogenschießen beigebracht?«
»Ja, wie man die Beute hinterher aufbricht.«
Sie warf den Kopf so heftig zurück, dass ihre Kapuze herabrutschte, und lachte. »Ich sehe schon, die Ausbildung von dir und deinem Bruder muss sehr viel umfangreicher ausfallen, als ich befürchtet habe. Aber jetzt komm! Sollte das Mondgesicht unsere reiterlosen Pferde einholen, dann wird es zurückkehren und nach uns suchen.«
Múria zog sich den Mantel enger um den Leib, verbarg ihr leuchtendes Haar wieder unter der Kapuze und lief in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren. Twikus stapfte mit gläsernem Blick neben ihr her. Das Straßensystem der Sonnenstadt folgte einem strengen Plan: lauter rechte Winkel. Nur die B reite der Gassen variierte. Die Herrin der Seeigelwarte ließ sich von der Monotonie aber nicht beirren. Als folge sie einem
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