Mirad 01 - Das gespiegelte Herz
hatte er sich gefühlt, als hätte ihm jemand den Teppich unter den Füßen weggezogen.
Das Herzogtum Bolk war ein eher ländliches Gemeinwesen am Zusammenfluss von Groterspund und Fendenspund, dessen Fläche zu etwa neun Zehnteln von der gleichnamigen Stadt bedeckt wurde. In den südlichen Ausläufern des Grotwalls gelegen, galt es als »Tor des Mutterlandes«, womit hauptsächlich die Region um die Königsresidenz gemeint war.
Der strategisch wichtigen Lage seines Reiches verdankte Herzog Qujibo – eigentlich hieß er Quondit Jimmar von Bolk – einige Freiheiten. Seine offene Ablehnung von König Hilkos steinreichem Vetter ging sogar so weit, dass sich jedes der Schiffe Hjalgords, wenn es den Hafen von Bolk anlief, strenger Kontrollen unterziehen musste. Diese Praxis kostete den Eigner natürlich jedes Jahr eine Menge Zeit und Geld. Bisher waren alle diesbezüglichen Beschwerden Hjalgords beim königlichen Gerichtshof im Sande verlaufen. Was sollte die Krone gegen einen Mann unternehmen, der den wichtigsten Verkehrsknotenpunkt im Wasserstraßennetz des Landes kontrollierte? Quondit Jimmar Herzog von Bolk saß, bildlich gesprochen, an der Gurgel von Seltensund.
Für Torlunds Erben bedeutete der Landgang mehr als eine willkommene Abwechslung von den Mühsalen des Lernens. In ihrem vom Wald und der freien Natur geprägten Vorstellungsvermögen waren Städte stets magische Orte gewesen, in denen Undenkbares möglich wurde. Fungor und Seltensund hatten diese Erwartung ja auch durchaus erfüllt. Leider nicht nur in angenehmer Weise. Qujibos Reich versprach dagegen einen entspannten Nachmittag ohne Angst vor Spionen und wilden Verfolgungsjagden.
Der Himmel war ein Blaubeerkuchen mit vereinzelten Sahneklecksen darauf. So empfanden zumindest Ergil und Twikus das zwar herbstlich frische, aber im Vergleich zu den vorangegangenen Tagen trockene und überwiegend sonnige Wetter. Sie genossen den Ausflug wie ein großes Stück besagten Backwerks. In Begleitung von Dormund, der auf seiner Wanderschaft schon früher hier durchgekommen war, erkundeten sie das kleine Herzogtum vom Hafen bis an die Mauern des Palastes, einem trutzigen, von Menschenhand geschaffenen Steinhügel, der den bunten Dächerteppich um einhundert Fuß überragte. Es war seltsam, sosehr die Prinzen das Wunder der Sonnenstadt auch beeindruckt hatte, fanden sie doch erheblich mehr Gefallen an dem chaotischen Durcheinander in diesem natürlich gewachsenen Ort als an der Monotonie Seltensunds.
Ein besonderer Farbklecks in diesem bunten Gemälde war für die Zwillinge die Gauklertruppe, der sie eine Zeit lang zuschauten. Ein Zwerg spuckte Feuer und ein Riese balancierte auf einem Seil. Andere Akrobaten bauten Pyramiden aus ihren Körpern und ein weiterer stellte unerschrockene Zuschauer an eine Holzwand und bewarf sie mit Messern, ohne den geringsten Schaden anzurichten. Das Publikum johlte vergnügt. Zum Schluss tobte es sogar vor Begeisterung, nachdem sich ein Hüne im Leopardenkostüm einen Scheinkampf mit einem Wurzelgnom geliefert hatte und der knorrige Winzling gewann.
Die Prinzen waren einigermaßen überrascht, einen der scheuen Bewohner des Großen Alten so fernab von der Heimat zu sehen. Bei dem fahrenden Volk seien solche »Kuriosi t äten« keine Seltenheit, sagte Dormund und ergriff sofort die Gelegenheit beim Schopf, um von seiner Wanderschaft zu berichten, die ihn als Achtzehnjährigen auch durch das Stromland geführt hatte. An verschiedenen Punkten des Rundgangs fügte er weitere kle i ne Anekdoten aus aller Herren Länder hinzu, bis er irgendwann wieder auf seinen ersten Besuch von Bolk zu sprechen kam. Vor sechsundzwanzig Jahren habe es nicht so viele Soldaten in der Stadt gegeben, sagte er sorgenvoll.
»Meinst du, sie bereiten sich auf einen Krieg vor?«, fragte Twikus.
»Möglich«, antwortete der Schmied brummig. »Würde die vielen Menschen erklären. Es ist viel voller in den Gassen, als ich es in Erinnerung habe. Vielleicht suchen sie Zuflucht zwischen den Mauern.«
Ihre Vermutungen sollten am Abend zur Gewissheit werden. Als die Gefährten in der Kapitänskajüte zusammensaßen, berichtete Bombo von seinem Erkundungsgang.
»Die Gerüchte verdichten sich. Im Nordwesten des Grünen Gürtels soll sich ein riesiges Heer sammeln. Es ist nur noch ein e F r age der Zeit, bis die Ungeraden ins Stromland einfallen.«
»Die Ungeraden?«, echote Ergil.
»Eine volkstümliche Bezeichnung für die Waggs«,
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