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Mirad 01 - Das gespiegelte Herz

Mirad 01 - Das gespiegelte Herz

Titel: Mirad 01 - Das gespiegelte Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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theoretischen Teil der »Entfaltung« zur Verfügung stellte. Sofern das größtenteils trübe, oft sogar nasse Wetter es zuließ, wurden einige Unterweisungen auch an Deck der Seskwin abgehalten – meist achtern, wo es am ruhigsten war –, aber nicht an diesem Morgen. Das Fach  »Zeitlesen und - formen« stand auf dem Lehrplan.
    »Wa s nimms t d u wahr?«
    Mit dieser Frage begann Múria oft eine neue Lektion. Ergil hatte inzwischen verinnerlicht, dass sie damit nicht einfach meinte: Was siehst du? Was hörst du? Oder was verrät dir ein anderer de i ner fünf Sinne? Wahrnehme n bedeutete für einen Sirilo mehr. Es hieß unter anderem, die Welt, die in ihm zusammengefaltet war, mit dem Geist zu ertasten. Weil Ergil auf dem Tisch vor sich aber nichts als Múrias zerknäultes nachtblaues Cape und einen schwer e n Handkompass aus Messing entdecken konnte, witterte er eine Fangfrage.
    Was meinst du, Twikus?, fragte er in sich hinein. Sie will doch nicht allen Ernstes von uns hören, was wir sehen.
    Du bist der Philosoph. Lass mich aus dem Spiel, antwortete sein Bruder.
    Jetzt komm schon! Hast du wirklich keine Ahnung?
    Nicht die Bohne. Bin aber gespannt, wie du aus der Kiste rauskommst.
    Ergil seufzte. Und lief offenen Auges in die Falle. »Ich sehe einen zerknäulten nachtblauen Umhang, auf dem ein Kompass liegt.«
    Múria s c hloss die Augen. »Das habe ich befürchtet.«
    »Aber die liegen doch da«, verteidigte sich Ergil.   
    Die Meisterin sah ihn wieder an. »Ich hatte gehofft, du würdest den symbolischen Charakter der Versuchsanordnung erkennen.«
    Ergils Daumen und Zeigefinger nahmen die Unterlippe in die  Zange, zogen daran…
    »Lass das!«, ermahnte ihn Múria streng.
    »Was?«
    »Immer wenn du nicht weiterweißt, zupfst du in deinem Gesicht herum. Wenn du deinen inneren Zustand für dich behalten willst, dann musst du nach außen Gelassenheit ver strömen.«
    Ergil ließ die Hand wieder sinken und verströmte nach  Leibeskräften Gelassenheit.
    Múria seufzte. »Die Falten des Mantels, den du vor dir liegen siehst, stellen unsere Welt dar, und zwar nicht nur in ihrer räumlichen, sondern auch in der zeitlichen Ausdehnung. So wei t klar?«
    Zögernd nickte er.
    »Un d de r Kompas s bis t du . Auc h klar?«
    Ergil verspürte das unbändige Verlangen, an seiner  Unterlippe zu ziehen.
    »Tu es nicht!«, sagte Múria drohend.
    »Ich bin der Kompass«, erwiderte er mit fester Stimme.
    »Gut. Angenommen, du willst dich auf diesem Faltentuch eine Stunde in die Zukunft bewegen – wa s machs t du?«
    Wenn das keine Fangfrage war! Er spitzte die Lippen. Die Versuchung war groß, den Kompass einfach anzuheben und ein Stück weit daneben wieder abzusetzen. Irgendwie hatte er das Gefühl, damit gleich in die nächste Falle zu tappen. Wozu war dieses nautische Gerät denn da?, fragte er sich. Zum Navigieren. Zur Orientierung. Sollte er sich einen Magnetstein besorgen und damit die Nadel ablenken? In die Zukunft? Vielleicht wusste Twikus einen Rat.   
    Bruderherz?
    Brauchst dich gar nicht einzuschmeicheln. Wenn ich morgen wieder abgebrannte Kerzenstummel ausbessern muss, kann ich ja auch nicht auf deine Hilfe zählen.
    Ein brennendes Talglicht wieder etwas jünger zu machen ist ja wohl ein Kinderspiel gegen das hier. Hast du keine Idee, wie ich…?
    Nein.
    Na, dann vielen Dank!
    Keine Ursache.
    Ergil hob die Schultern. »Ich bin mir unschlüssig.«
    »Gut.«
    »Was soll daran gut sein?«
    »Hättest du den Kompass über den Mantel geschoben, dann wärst du durchgefallen.«
    Schwein gehabt, kommentierte Twikus aus dem Untergrund. Ergil versuchte sich seine Erleichterung nicht anmerken zu
    lassen. Er verströmte Gelassenheit. »Was willst du mir damit erklären?«
    »Das ist sogar eine sehr gescheite Frage. Ich möchte dir die Sicht der Sirilim auf die Zeit nahe bringen. Für die meisten Menschen ist sie der Kandenblood: Er fließt nur in eine Richtung, von oben nach unten.«
    »Aber wir segeln gerade stromaufwärts.«
    »Ein guter Einwurf! Wäre der Blutfluss die Z eit, dann würden wir gerade in die Vergangenheit reisen.«
    Ergil starrte den Kompass an. »Ist das nicht das Gleiche, als würde ich ihn auf dem Faltentuch versetzen?«
    »Genau so ist es. Bei solchen Hüpfern in der Zeit könnte man sich leicht selbst begegnen, w as ein heilloses Durcheinander anrichten kann. Ich komme in einer späteren Lektion darauf zurück. Deshalb haben die großen Meister des Volkes der Weisen solche Sprünge meist

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