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Mirad 01 - Das gespiegelte Herz

Mirad 01 - Das gespiegelte Herz

Titel: Mirad 01 - Das gespiegelte Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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hatte sie auf Deck einen Becher mit Wasser umgekippt und Ergil genauso hintersinnig gefragt, was er sehe.
    »Wasser, das über die Planken rinnt«, lautete die arglose  Antwort.
    Sie hatte wieder geseufzt. »Kannst du seinen Weg vorherbestimmen?«
    »Natürlich. Das Deck ist zur Mitte des Schiffs hin abschüssig. Wasser fließt immer bergab.«
    »Und wie war es an der Dinganschlucht?«
    »Anders«, hatte Ergil kleinlaut eingeräumt.
    »Hast du schon einmal Regentropfen dabei beobachtet, wie sie an einer glatten Schiefertafel oder einem lackierten Holzbret t hinabrinnen?«   
    »Ja.«
    »Liefen alle schnurgerade von oben nach unten?«
    »Nein. Eher in Schlangenlinien.« Ergils Antwort hatte gequält geklungen.
    »Waren sie alle gleich schnel l ?«
    »Nein. Manchmal hat ein Tropfen einen anderen überholt, obwohl der schon einen guten Vorsprung hatte. Sie sind ganz… eigenwillig. Unvorhersehbar. Vor allem, wenn… wenn viele Wasserperlen auf der Tafel hingen, war es so.«
    »Immerhin hast du eine gute Beo b achtungsgabe, Ergil. Und ich gebe dir Recht. Was du eben beschrieben hast, nenne ich den ›freien Willen der unbelebten Natur‹.«
    »Ich meinte das eher bildlich. Kann es überhaupt so etwas wie einen Willen geben, wo kein Verstand vorhanden ist?«
    »Vielleicht nicht dieselbe Kombination von Urteils- und Entscheidungsvermögen, die unser Handeln bestimmt, aber wer sagt, dass die unbelebte Welt nur sturen Regeln folgt? Ich finde diese Sicht der Natur kalt und zynisch, weil sie den Blick auf Schönheit trübt. Die Idee der Sirilim von der ›Seele der Natur‹ gefällt mir besser. Sie behaupten, jede Schneeflocke sei so einzigartig wie ein Sirilo oder Mensch. Oder hast du je zwei gleiche Blätter an einem Baum gesehen? Auch jeder Küstenstrich Mirads hat sein eigenes Gesicht. Und diese Einzigartigkeit in der Form – vom kleinsten Ding bis zum unendlichen weiten Sternenhimmel – zeigt sich eben auch im Verhalten. Oder wenn dir das lieber ist, nenne es ›die Bewegung‹ der Tropfen an einer Wand; der Wellen im Meer; der Luftbläschen, die ein ins Wasser gefallener Stein hervorzaubert; der sich ständig verändernden Wolkenfiguren am Himmel – es gibt so viele Beispiele für den freien Willen der unbelebten Natur.«
    »Ist es nicht eher Chaos?«   
    »Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Fest ste h t, dass die Unvorhersehbarkeit schon immer eine der größten Sehnsüchte des Menschen weckte: Er möchte die Unwägbarkeiten des Seins bezwingen. Die eigene Zukunft selbst bestimmen. Oder wenigstens einen Blick dorthin werfen.«
    »Bis dahin habe ich’s verstanden .«
    »Gut. Dann kannst du ja jetzt anfangen deinen Willen in das  Wasser einzuweben.«
    Während Ergil noch über Múrias seltsamen Auftrag nachgegrübelt hatte – Wie webe ich meinen Willen ins Wasser? –, war der gellende Schrei vom Ausguck erklungen.
    Und jetzt muss ich es zu Ende bringen, dachte Twikus und stöhnte.
    Es war zum Verzweifeln. Weder an diesem noch am nächsten Tag zeigten die über das Deck rinnenden Wasserfäden Einsicht. Sie malten nach ihrem eigenen sturen »Willen« feuchte Spuren auf die Planken. Obwohl Múria keine Gelegenheit für ein aufrichtiges Lob verstreichen ließ, glaubten die Zwillinge bei ihr eine gewisse Enttäuschung zu spüren.     
    Schekira kam nur allzu gerne der Bitte des Kapitäns nach, der gemeinsamen Sache als Späherin zu dienen. Schon am zwe i ten Tag ihrer ausgedehnten Erkundungsflüge kehrte sie mit einer beunruhigenden Nachricht zum Schiff zurück. Bombo empfing die Elvin auf der Steuerbordseite neben der Hütte. Twikus hatte aus seinem Trinkbecher gerade einen weiteren Schwall Wasser übers Deck geleert und ließ sich – sehr zu Múrias Missfallen – allzu bereitwillig von Schekiras Bericht ablenken.
    »Ein Stückchen weiter stromaufwärts habe ich zwei verlassene Orte gesehen«, sagte die Prinzessin.   
    Bombo nickte. »Ugard und Ogard. Wir nennen sie ›das T o r zur Ödnis‹, weil südlich davon kaum noch eine Menschenseele wohnt.«
    »Habt Ihr mich richtig verstanden, junger Freund? Ich sagte nicht, das Land drum herum sei leer, sondern die Städte selbst. In der größeren, der nächstgelegenen…«
    »Da s is t Ugard.«
    »Wie a uch immer. Aus der Luft sah dieses Ugard wie eine  Geisterstadt aus.«
    »Habt Ihr auch einen Blick in die Häuser geworfen?«
    »Nein. Verzeiht, aber ich meide den Besuch von Städten, wo ic h nu r kann.«
    »Vielleicht sollten wir uns das aus der Nähe

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