Mirad 01 - Das gespiegelte Herz
Wehre…«
Plötzlich verstummte sie, weil sich etwas Erstaunliches anbahnte. Das Wasser aus dem zuletzt umgestoßenen Becher war, anders als zuvor, entlang der Reling gelaufen. Genauer gesagt, floss es zunächst, die Form des Hecks abbildend, in einer engen Kurve nach steuerbord, um hierauf dem immer flacher werdenden Bogen zur Mitte des Schiffes zu folgen. Hinter der Poop entschwand das Rinnsal Múrias Blicken.
»Bist du das gewesen?«, fragte sie sehr leise.
»Ich weiß es nicht«, antwortete er.
»Was soll das heißen? Ist das Wasser so geflossen, wie du es wolltes t ode r nicht?«
»Doch, schon. Aber m e in… ›Stauwehr‹… dieses ›Einweben meines Willens‹ fühlt sich ganz anders an, als ich es mir vorgestellt hatte.«
Sie atmete tief durch, als gelte es, nach einer Beleidigung nicht die Beherrschung zu verlieren. »Das war ja wohl auch zu erwarten. Andernfalls hättest du für diese Übung keine geschlagenen drei Tage gebraucht.«
Er wich ihrem strengen Blick aus und starrte missmutig das feuchte Band auf den Planken an.
»Besser spät als nie«, fügte Múria rasch hinzu. Sie musste seine Mutlosigkeit wohl gespürt haben. »Du und dein Bruder habt euch für heute genug abgemüht. Ihr müsst erschöpft sein. Genießt bis zum Abendessen den Sonnenuntergang. Morgen beginnen wir eine neue Lektion.«
Ergils Antwort beschränkte sich auf ein Nicken. Seufzend blickte er seiner gestrengen Lehrmeisterin, nach, die der Spur des Rinnsals folgte und hinter der Hütte verschwand.
16
DE R SCHWARM
»Na, wie geht es voran mit Eurer Ausbildung, Hoheit?«
Ergil erkannte die stets leicht verschnupft klingende Stimme sofort. Er blieb so, wie er war: vorgebeugt, mit den Unterarmen auf der Reling lehnend und unwirsch ins Kielwasser starrend. »Ihr sollt mich doch nicht so nennen, Kapitän.«
Bombo versuchte die gleiche Haltung wie der Prinz einzunehmen, was infolge seiner Kleinwüchsigkeit etwas gezwungen aussah, fast so, als wolle er am Geländer Klimmzüge machen. »Ich habe bei Euch noch etwas abzubüßen.«
»Das ist Schnee von gestern.«
»Aber nicht die Barschheit, mit der ich Euch neulich abgefertigt habe. Ihr wisst schon – als wir den Rauch am Himmel sichte t en. Ich wollte mich entschuldigen.«
»Schon gut.«
»Nicht wahr, der gestrige Tag steckt Euch noch in den Knochen…?« Bombo klatschte sich mit der Hand auf den Mund, als wolle er das unpassende Wort wieder zurückschieben. »Entschuldigt meine Taktlosigkeit.«
Ergil schloss die Augen, atmete tief durch und heftete den Blick wieder aufs Kielwasser.
So unmissverständlich diese Äußerung der Körpersprache für den Kapitän sein musste, so wenig ging er darauf ein. Anstatt zu verschwinden, knüpfte er an seine eingangs g e stellte Frage an. »Also, was macht Eure – wie nennt die Herrin es? – Entfaltung? Ihr klingt so verdrossen.«
»Mir geht’s nicht gut.«
»Das sieht man Euch an.«
»Scheint meine größte Schwäche zu sein.«
»Was bedrückt Euch? Sind es die Skelette? Wenn Ihr wollt, dann redet drüber. Meistens geht’s einem danach besser.«
Ergil zuckte die Achseln. »Weiß nicht. Ja, die Toten vom Tor zur Ödnis verfolgen Twikus und mich bis in die Träume. Aber…« Er warf die Hände gen Himmel und ließ sie gleich wieder auf die Reling fall e n.
»Abe r was?«
»Wie soll ich unserer Sache nützen, wenn ich mich so dumm anstelle? Manchmal kommt es mir so vor, als würde ich überhaupt nichts begreifen.«
»Den Eindruck habe ich aber nicht. Mir ist eben zugeflüstert worden, Ihr hättet Wasser nur mit Eurem Willen übers Deck gelenkt.«
Ergil wollte auflachen, aber es kam nur ein schnaubendes Geräusch heraus. »Hat sie Euch zu mir geschickt?«
»Wie kommt Ihr darauf?«
»War nur so ein Gedanke. Was ich da eben getan habe, nennt Múria ›Fingerübungen‹. Nichts als Spielchen. Die ewigen Wiederholungen sind so eintönig. Alles dauert so lang…«
»Ihr dürft nicht das Ziel aus den Augen verlieren.«
Der Prinz wandte den Kopf nach links, sah zum ersten Mal in das fast heitere Gesicht des kleinen Kapitäns. »Das Ziel?«
»Ihr zwei Brüder seid die Thronerben von Soodland. Múrias Unterweisungen bereiten Euch auf die Zeit Eurer Regentschaft vor. Ist das etwa kein Ziel?«
»Ich glaube eher, das Exerzieren mit ihr dient dem einen Moment, in dem ich Wikander gegenübertreten werde.«
»Da s geh ört dazu. Wenn Ihr heute Eure Ausbildung schleifen lasst, werdet Ihr diesen einen
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