Mirad 01 - Das gespiegelte Herz
huschten Schatten, die fast zu schnell waren, um sie als Fiederfische zu erkennen. Ergil keuchte. Es war aufregend, aber nicht unbedingt ein appetitlicher Anblick. Er riss sich von Permunds schrecklichem Todeskampf los.
An dieser Stelle drehte Ergil im Fluss der Zeit um und ließ sich einfach mit der Strömung treiben.
Er kehrte ans Oberdeck zurück. Einige Männer sprangen in Panik über Bord, andere schwammen ans nahe Ufer. Die schnellsten verschwanden b ereits in dem dichten Blattwerk des Urwaldes. Andere halfen verletzten Kameraden. Ein Pirat war noch zurückgeblieben, ein dunkelhaariger Seebär mit kräftiger Statur, ärmellosem Lederwams und einem Säbel in der Hand. Engwin?, fragte sich Ergil. Ja, es war der Bootsmann! Dieser blickte durch das zerstörte Oberlicht ins Mannschaftsquartier, schrie etwas hinab – die ganze Szene war immer noch stumm – und schüttelte wütend die Faust mit der Waffe. Mit einem Mal fuhr er herum, rannte mit aufgerissenen Augen auf die Reling zu, hechtete darüber hinweg und landete im Wasser.
Vier oder fünf Fiederfische schossen mit angelegten Flügeln aus dem Oberlicht und schwirrten davon. An dem fliehenden Bootsmann waren sie nicht interessiert.
Ergil heftete sich an Engwins Fersen. Der Bootsmann hatte die Nachhut seiner Kameraden bald eingeholt. Allmählich fanden alle sechsundzwanzig Überlebenden wieder zusammen. Später gerieten sie auf morastigen Grund – vielleicht ein Vorbote der Namenlosen Sümpfe. Ein Seemann versank schlagartig bis zur Brust, aber seine Kameraden konnten ihn mithilfe eines Astes retten. Danach liefen sie am Rand des Moores entlang, bis sie auf ein Quartett von Felsen stießen – möglicherweise die restlichen vier Finger, die zu dem
»Daumen« weiter stromaufwärts gehörten. Zwischen den Steinsäulen entdeckten sie einen Höhleneingang. Dort suchten sie Zuflucht.
Zeit verging. Für Ergil war es nur ein schnelleres »Schwimmen« im großen Strom der Veränderungen. Er wollte sichergehen, die Piraten nicht doch noch zu verlieren. Aber sie blieben bei den vier Säulen.
Der Prinz öffnete die Augen. Er war erschöpft. »Hast du es gesehen?«, fragte er Múria.
Ihre langen Wimpern hoben sich ebenfalls. Sie sah ein bisschen benommen aus. »Was?«
»Die vier Finger.«
»Nicht mehr als Schemen und Nebel. Ich bin nicht die Durchdringerin, mein Lieber, sondern nur…«
»Meine Stütze, ich weiß.« Er lächelte verlegen, weil sein Mundwerk ihr wieder einmal das Wort abgeschnitten hatte.
»Entschuldige. Ich danke dir für deine Hilfe, Wegbereiterin Inimai.«
Si e lächelte. So hatte er sie noch nie genannt. »Kennst du jetzt den Aufenthaltsort der Männer?«
»Ja. Kira hätte womöglich Tage gebraucht, um sie in der Höhle zu finden. Die Ärmsten sind ziemlich verängstigt. Es war gut, sie mit unserer Gabe aufzuspüren.«
I h re Augen lagen forschend auf seinem Gesicht, während sie antwortete: »Ja, mein Lieber. Ich denke, es war sogar sehr gut.«
21
DI E UNGERADEN
Sie fanden die Piraten im Schatten der vier Finger. Es ging ihnen den Umständen entsprechend gut. Natürlich ha t te die Flucht in den Urwald den schon in der ersten Flederfischschlacht schwer verletzten acht Seemännern nicht gut getan. Einige leichtere Blessuren waren hinzugekommen. Die meisten »Wehwehchen« seien schon so gut wie vergessen, ließ Engwin, der Bootsmann, ausrichten, nachdem Schekira sie aufgespürt hatte. Als er und seine Kameraden wieder an Bord de r Seskwin zurückgekehrt waren, erstattete er einen vollständigen Bericht der Geschehnisse.
Bereits drei Tage nach Aufbruch der Expedition habe Permund die Meuterei vorbereitet. In vielen Einzelgesprächen säte er Zweifel unter die Piraten, machte sie glauben, dass die Davongefahrenen nie zurückkehren würden. Und überhaupt: Das ganze Unternehmen sei ohnehin nutzlos, denn es gebe keinen Weisen vom Sternenspiegel. E r selbst, Permund, habe die Namenlosen Sümpfe durchquert und wisse, wovon er rede. Allmählich fand er Zustimmung, seine Saat ging auf.
Nach Ablauf einer Woche machte er sich an die Ernte. Ein längeres Verweilen sei zu gefährlich, begründete er seinen Befehl zum Ankerlichten, den er wie eine brüderliche Empfehlung klingen ließ. Nach Artikel drei der Satzung habe die Mannschaft das Recht, selbst über ihre Sicherheit zu entscheiden. Er habe dagegengeredet, beteuerte Engwin, aber es fruchtete nicht. Permund ha t te sich seine Zweidrittelmehrheit längst erschlichen. So
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