Mirad 01 - Das gespiegelte Herz
dass dieser zu einer scharfen Entgegnung ansetzen wollte. Um dem Waffenmeister zuvorzukommen, antwortete er: »Ich kann Euren Missmut verstehen, Hoheit, aber wären wir wohl hier, wenn Eure Annahme stimmte?«
»Vielleicht wollt Ihr mich ja nach geheimen Tunneln fragen, die Euch in die Freiheit führen. Aber da muss ich Euch enttäuschen: Die gibt es nicht. Über den Fluss könnt ihr auch nicht mehr entkommen.«
»Wieso?«, fragte Múria.
»Weil eben ein Botenfalke eingetroffen ist. Unser erstes Kurierschiff ist auf dem Groterspund in einen Hinterhalt geraten. Steppenländer. Brandpfeile. Die Nachricht war kurz, aber unmissverständlich. Die wilden Reiter fühlen sich offenkundig auch in den Bergen wohl. Wie wir aus der Meldung entnehmen konnten, haben sie sich dort verschanzt, um die Nordflanke des Waggheeres zu sichern. Und um unsere Hilfegesuche an den König abzufangen. Ich habe das unbestimmte Gefühl, dass unsere drei anderen Boten ebenfalls nicht durchgekommen sind. Wahrscheinlich wird König Hilko erst von der Bedrohung da draußen erfahren, wenn es uns längst nicht mehr gibt.« Der Herzog deutete über die Mauer zu den Wachfeuern der Waggs.
Das feindliche Heerlager war zu weit entfernt, um irgendwelche Einzelheiten zu erkennen. Zwar hatte sich ein Ring aus Kämpfern näher an die Stadt herangeschoben, aber in der Dunkelheit konnte Ergil sie nur als graue Schemen ausmachen. Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Herzog zu.
»Angenommen, wir verschaffen Euch eine Atempause, damit Ihr Eure Verteidigungsstellungen ausbauen könnt, würdet Ihr uns dann im Gegenzug dabei helfen, nach Soodland zu kommen?«
»Das schwöre ich. Hier vor meinen Männern. Und ich wäre der Erste, der vor Euch als meinem neuen Großkönig den Treueeid ablegen würde. Aber Ihr habt ja gerade gehört, wie es um die Nordverbindung bestellt ist. Wie wollt Ihr in Eure Heimat kommen, geschweige denn Euren Oheim zur Strecke bringen?«
»Letzteres wird sich fügen. Was den Weg nach Norden anbelangt – in Harkon Hakennases Reisebericht habe ich von einer West - Ost - Route durch den Grotwall gelesen. Da war von einem ›Tal der Fisch e ‹ di e Rede…«
»Vergesst es! Kein Mensch kommt lebend da durch.«
»Ich finde, der Name klingt gar nicht so bedrohlich.«
Múria legte ihre Hand auf Ergils Schulter. »Der Herzog hat Recht, mein Lieber. In diesem Tal gibt es keine Fische, sehr wohl aber Netze. Und si e sin d lebendig.«
»Wer?«
»Die Netzlinge. Geschöpfe, die großen Spinnenweben gleichen, in die man besser nicht gerät.«
»Hm. Vielleicht kennt dieser Tusan noch einen anderen Weg durch das Gebirge.«
»Wenn überhaupt jemand, dann er, Hoheit. Ich lasse bere i ts nach ihm suchen«, sagte der Herzog und zeigte wieder zu den Wachfeuern jenseits der Mauer. »Abgesehen davon gibt es hier aber zunächst ein weit größeres Problem zu lösen. Habt Ihr schon eine Idee, wie Ihr Euren Teil unseres Handels erfüllen wollt?«
Erg i ls Augen folgten der deutenden Hand. »Nicht wirklich. Ich verlasse mich in solchen verzwickten Lagen meistens auf mei n Gefühl.«
Quondit verzog die Lippen zu einem spöttischen Lächeln.
»Man könnte fast meinen, Ihr hättet schon des Öfteren solche Situationen gemeistert.«
Der Blick des Prinzen kehrte zu dem grinsenden Gesicht des Herzogs zurück. Mit unbewegter Miene erwiderte Ergil:
»Insofern, als ich mich schon mehrmals in arger Bedrängnis befunden habe, ist das sicher richtig. Meine Lehrerin hat einmal gesa g t: ›Nicht die Stärke des Feindes entscheidet über Sieg und Niederlage, sondern seine Schwäche.‹«
Als Ergil die Schlachtreihen der Waggs deutlich sehen konnte, lief es ihm kalt den Rücken hinunter. Im Licht der aufgehenden Sonne hatten sich die Schatten i n Furcht erregende Geschöpfe aus Fleisch und Blut verwandelt. Obwohl er schon einiges über die Bewohner des Südgebirges von Harim - zedojim gehört hatte, verhalf ihm erst ihr Anblick zum vollen Verständnis ihrer Abscheulichkeit.
Die Ungeraden – so nannte sie der Volksmund. Diese Bezeichnung war irreführend, denn die Anzahl ihrer Gliedmaßen folgte keiner festen Regel. Möglicherweise gab es genauso viele mit einer geraden wie mit einer ungeraden Anzahl von Armen und Beinen, aber Múria hatte die seltsame Namens g ebung einmal dem Hang der Menschen zum Außergewöhnlichen zugeschrieben. Weil das Exotische ihre Aufmerksamkeit stärker anspricht als das Gewohnte, neigen sie schnell zur Verallgemeinerung des
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