Mirad 01 - Das gespiegelte Herz
wenn Falgon im Wald seine Fallen kontrollierte, nahm Twikus eines der Schwerter von der Wand und kämpfte gegen unsichtbare Gegner. Mit ein wenig Anleitung würde er zweifellos bald genauso geschickt im Umgang mit der Klinge sein wie im Bogenschießen. Fal g on ließ sich jedoch nicht erweichen. Er weigerte sich beharrlich, ihm das Fechten beizubringen. Seine Lektionen beschränkten sich auf das »Handwerk eines Waldläufers«: Spurenlesen, die Jagd mit Fallen, Bogen und Speer, die Lebensgewohnheiten der Tiere und sonstiger Waldbewohner, die Unterscheidung von Heilkräutern, Pilzen und anderen Pflanzen, die Zubereitung von Tees, Pülverchen und Salben zur Bekämpfung von großen und kleinen Leiden, um nur einiges zu nennen.
Möglicherweise rührte Twikus’ Sehnsucht nach der Welt draußen von seinen nächtlichen Träumen her. Da gab es ja nicht nur den komischen Weichling, sondern auch durchaus Angenehmes. Manchmal reiste er im Schlaf zu den Schönen, dem alten Volk der Sirilim. Hin und wieder besuchte er auch seine Mutter. Na t ürlich wusste er nicht wirklich, wie sie aussah, aber dennoch glaubte er, ihr schmales, von goldenen
Locken umsäumtes Gesicht zu kennen. Seit Falgon ihm eines Nachts Vanias haarfeine Halskette aus Satim umgelegt hatte, sah er es sehr klar und immer wieder. Nur aus dem Anhänger, diesem winzigen Schwert, wurde er nicht schlau. Er ahnte, dass der silberne Dorn eine eigene Geschichte hatte. Mit der Satimkette war nämlich noch ein anderer lichter Traum gekommen, der auf seine eigene Weise ebenso aufregend war wie der von seiner Mutter. Er handelte von einem Mädchen.
Dieses wunderbare Geschöpf hatte so gar nichts gemein mit den Jungfern, die Falgons »Bilderbuch« bevölkerten und Twikus manchmal wie Fische in langen Gewändern vorkamen. Diese eine aus seinen Träumen besaß Anmut, strahlende Wärme, war unbeschreiblich schön. Ihr kupferfarbenes Haar glänzte wie die Morgenröte und sie trug ihr luftiges kurzes Kleid mit derselben Selbstverständlichkeit wie eine schöne Blume ihre Blütenblätter. Wenn er je heiraten würde, da nn dieses Mädchen.
In den letzten zwei Nächten hatte er es jedoch nur kurz gesehen, bevor die schlimmen Alpträume kamen. Nein, nicht das Hineingleiten in den tiefsinnigen Zärtling war für den jungen Draufgänger so furchtbar gewesen, sondern die verschwomm e nen Bilder von einem blutigen Kampf, in dessen Verlauf Falgon schwer verwundet wurde und reglos auf sandigem Boden liegen blieb. Vielleicht hätte Twikus diesen Traum als Ausgeburt seiner hitzigen Phantasie abgetan, aber als er nach einiger Überwindung am Morgen zu Falgon gegangen war und ihm davon erzählt hatte, reagierte der Alte alles andere als gelassen. Kein aufmunterndes Lachen, keine beruhigenden Worte, stattdessen wich alle Farbe aus Falgons Gesicht und er verließ fluchtartig das Haus.
Aus dem Wunsch heraus, seinem Ziehvater eine Freude zu machen, war Twikus wenig später aufgebrochen, um einen guten Braten zu schießen. Er fragte sich gerade, ob der Fasan ausreichen würde, den Schrecken aus Falgons alten Knochen zu vertreiben, als er den Schrei eines Menschen hörte.
Twikus ließ den Fasan fallen und ehe dieser den Boden erreichte, hatte er schon einen Pfeil aus dem Köcher an seinem Gürtel gerissen und den Bogen in Anschlag gebracht. Wenn es darauf ankam, konnte er vier von ihnen verschießen, jeden in eine andere Himmelsrichtung, bevor sein Herz zweimal geschlagen hatte – und jeder traf mit fast magischer Sicherheit sein Ziel. War das eben Falgon gewesen? Wem sonst sollte die Stimme gehören? Twikus hatte den Waldläufer in den letzten zehn Jahren allerdings nie auf solche Weise schreien gehört: irgendwie gepresst, rasend, wie in verzweifelter Wut… Ängstlich gar?
Die Sinne des jungen Mannes öffneten sich wie sonst nur während der Jagd, wenn er die unzähligen Eindrücke des Waldes in sich aufnahm und verarbeit e te. Wie ein Baum, dessen Wurzeln die Erde durchwühlten und dessen Blätter sich Luft und Sonnenlicht zu Diensten machten, erkundete er die Umgebung. Dieses »Sieben« seiner Umgebung bedeutete für ihn eine ungeheure Kraftanstrengung, die er nie besonders lange durchhielt. Aber das war an diesem Morgen auch nicht nötig. Sein Blick wanderte nach links, noch bevor ein weiterer Laut aus dem Dickicht der Geräusche hervortrat und der Bedrohung einen Namen gab.
»Grotans!«, flüsterte Twikus entsetzt und begann auch s c hon zu laufen.
Seine langen Beine trugen ihn in
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