Mirad 01 - Das gespiegelte Herz
begonnen, dem Grotan das Fell abzuziehen.
»Jetzt ist die Schuld ausgeglichen.«
Der Alte wandte sich zu Twikus um. »Was soll das jetzt heißen? Das klingt so nach: Zeche bezahlt – le b wohl!«
Twikus biss sich auf die Unterlippe. Vorhin auf dem Rückweg zur Hütte hatten sich seine Gedanken ja tatsächlich mit dem Hinausziehen in die große weite Welt beschäftigt. War ihm da eben etwas herausgerutscht, das seine innigsten Wünsche verriet? Kleinlaut antwortete er: »Na, als ich ein kleiner Junge war, hast du mich vor einem Grotan gerettet. Heute ist es umgekehrt gewesen.«
»Willst du damit andeuten, heute hätte ich mich wie ein
Grünschnabe l benommen?«
»Nein! Natürlich nicht.«
»Habe ich aber, Twikus, und das sollte uns beiden eine Lehre sein. Ich hätte meinen Jagdbogen nicht einfach so liegen lassen dürfen.«
Unbehaglich ließ der Junge den Blick über den Kadaver gleiten. »So einen riesigen Grotan habe i c h noch nie gesehen.«
»Ein wahrhaft gewaltiger Gegner«, pflichtete ihm Falgon bei.
»Mehr noch als die Größe beunruhigt mich aber sein Verhalten. Aus seinem Versteck hier hat er sein Rudel fast wie ein Kriegsherr befehligt. Keine Frage, Grotans sind schlaue Jäger, aber das hier…« Der Alte schüttelte den Kopf.
Vielleicht hat der Feind sie geschickt! Twikus fuhr einmal mehr zusammen, als sich die Stimme plötzlich wieder meldete. Die Gefahr war doch überstanden, warum gaben seine Nerven nicht endlich Ruhe?
»Was ist los, Junge?«, fragte Falgon.
»Ich hatte nur eben…« Twikus breitete die Arme aus. »Ach, nichts.«
Ich verbitte mir, von dir als ein Nichts bezeichnet zu werden!, protestierte es in seinem Kopf.
»Sei endlich still!«, fauchte er.
Der Waldläufer erhob sich von dem aufgebrochenen Kadaver und bedachte seinen Zögling mit einem strengen Blick. »Du sagst mir jetzt sofort, was mit dir los ist, Twikus. Wen hast du d a ebe n angezischt?«
»Ich…« Weiter kam der Gefragte nicht, denn erneut meldete sich der Plagegeist in seinem Kopf, und dieses Mal war es eine unmissverständliche Warnung.
Pass auf, da kommt ein Speer!
Aus verständlichen Gründen war Twikus zuletzt nicht sehr wachsam gewesen, jetzt aber erwachten in einem einzigen Augenblick alle seine Sinne. Ohne sich umzuwenden, wusste er, aus welcher Richtung das Wurfgeschoss kam. Er warf sich auf Falgon und riss ihn zur Seite.
Der Speer bohrte sich in den am Boden liegenden Kadaver. Es ist noch nicht vorbei!, schoss es durch Twikus’ Kopf. Der Traum kann sich immer noch erfüllen.
»Schnell, ins Gebüsch!«, raunte der Waldläufer.
Sie rollten sich unter die Zweige, die zuvor dem Grotan als Deckung gedient hatten. Schon bohrte sich ein zweiter Speer vor ihnen ins Erdreich. Nur einen Moment früher und er hätte Twikus getroffen. Z wischen den Blättern hindurch sahen sie den Hang hinauf.
»Ich zähle acht Reiter«, stieß der Junge hervor, was er kaum fassen konnte. Recken, die zu Pferde in die Schlacht zogen, kannte er ja nur aus Falgons Buch und fühlte sich an einen schon Jahre zurückliegenden Traum erinnert…
Die Angreifer waren schon bedrohlich nah. Sie trugen Furcht einflößende Helme und Brustpanzer, ansonsten aber eher leichte Rüstungen, die schmutzig, zerkratzt und mit Dellen übersät waren – fast so, als wollten sie Twikus’ Vorstell ung von edlen Rittern in glänzendem Harnisch verhöhnen. In ihren Händen schwangen sie mächtige Schwerter, und zwei Kämpfer holten gerade mit Speeren zum Wurf aus.
Twikus stützte seinen Langbogen auf den Boden, zielte und schoss. Sein Pfeil traf den vordersten Speerwerfer unter der Achsel, genau ins Schultergelenk. Falgons Abneigung gegen das Kriegshandwerk hatte den jungen Schützen geprägt – etwas in ihm sträubte sich dagegen, die Angreifer zu töten –, aber wenigstens den Spaß am Morden wollte er ihnen nehmen. Schon zischte Pfeil Nummer zwei durch die Luft und durchschlug den Arm des anderen Speerwerfers unmittelbar unterhalb des Handschuhs.
»Wer sind diese Leute, Falgon? Warum wollen sie uns umbringen?«
»Das ist eine zu lange Geschichte, um sie dir jetzt zu erzählen, mein Junge… Beim Allmächtigen!«
Twikus’ Augen folgten Falgons nach oben gerichtetem Blick. Auf der Kuppe des Hügels waren gerade weitere Reiter
erschienen. Sie bildeten eine Kette und näherten sich schnell. Der Alte schüttelte den Kopf. »Das sind zu viele. Wir sitzen
in der Falle. Schnell zur Furt! Mit dem Bach zwischen uns und ihnen können wir
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