Mirad 01 - Das gespiegelte Herz
der eigenen Vernichtung zurückschrecken zu lassen? Solange die Ischschsch ihm ausgewichen waren, hatte er sich über den Gebrauch seiner Waffe wenig Gedanken gemacht, doch jetzt schien sie in seiner Hand immer schwerer zu werden. Voll Grauen erinnerte er sich an den Kampf beim Wildbach; er hatte drei Menschenleben ausgelöscht. Zitternd wandte er sich zu Falgon um.
» Ich durfte nie ein eigenes Schwert besitzen, Oheim, weil es ein todbringendes Werkzeug ist. Jetzt verstehe ich deine Bedenken. Was würdest du an meiner Stelle tun, hier und jetzt?«
Falgons helle Augen glitzerten in dem Licht, das von der wogenden Flut zurückgeworfen wurde. »Hast du schon vergessen, was ich dir am Morgen, beim Verlassen des Waldes, gesagt habe? Früher war ich dein Beschützer, jetzt bin ich dein Begleiter. Ich kann keine Entscheidungen mehr für dic h treffen.«
»Dann gib mir wenigstens einen R a t, so wie es Dormund vorhin getan hat.«
»Man ist, was man tut. Das trifft auf dich ebenso zu wie auf die Ischschsch.«
Torlunds Sohn starrte den alten Waldläufer ratlos an. Ein simples »Tu dieses« oder »Lass jenes« wäre ihm lieber gewesen als diese vieldeutige Antwort. Man ist, was man tut. Obwohl die Erschöpfung an ihm saugte wie ein gieriges Insekt, zwang er sich zum Nachdenken. Was hatten denn die Ischschsch getan? Sie verleibten sich Menschen ein. Sie lösten jeden unbequemen Gedanken samt dessen Denker a uf, machten ihn zu einem nicht mehr unterscheidbaren Teil ihrer nur vermeintlich transparenten Masse.
Und sie wollten uns beide verschlucken, fügte Ergil für die anderen unhörbar hinzu.
Du hast Recht. Sie töten Unschuldige ohne Zögern. Ich denke, wir müss e n sie Himmelsfeuers Glut spüren lassen.
Aber sei vorsichtig, ja? Wenn dir Zijjajim entgleitet, dann sind wir verloren.
Ergil konnte die Verfassung seines Bruders besser einschätzen als jeder andere in der Gasse; er fühlte sich ja selbst ausgelaugt, wie ge r ädert. Obwohl seine Angst mit jedem Atemzug größer wurde, zog er sich nicht in jenes stille Dunkel zurück, das er früher immer mit Schlaf gleichgesetzt hatte. Er beobachtete, während Twikus handelte.
Feuerwind setzte sich wieder in Bewegung. Die ruhelosen Ohren und der zuckende Schweif des Schiachtrosses verrieten seine Anspannung, aber es besaß ein mutiges Herz. Schritt für Schritt näherte es sich der tosenden Wasserwand.
»Ruhig, mein Guter. Ich bin ja bei dir«, sprach Twikus aufmunternd auf das große Pfe r d ein. Seine Rechte hielt Zijjajims Griff umklammert. Obwohl die Nacht empfindlich kühl war, schwitzte er. Warum wichen die Ischschsch immer noch nicht zurück? Sollte er lieber umkehren?
Während er sich auf die schäumende Mauer zubewegte, zischte sie wie tausend Vipern. Längst befand er sich im Gleichklang mit seinem Pferd, so wie früher mit den Bewohnern des Waldes. Feuerwind vollzog eine Vierteldrehung, als habe er die Gedanken seines Reiters gelesen. Seitwärts schritt der Hengst weiter voran. Unter den I schschsch schien es keinen Anführer zu geben, kein Individuum, das die Stimme erheben und seine Gefährten zur Vernunft bringen konnte. Twikus wagte kaum noch zu atmen. Das gläserne Schwert würde jeden Moment das Hindernis berühren. Wieso trotzten die Ischschsch immer noch seinem tödlichen Feuer?
Unversehens veränderte sich die Form der bis dahin fast senkrechten Mauer. Sie begann sich zu verwerfen. Der Hengst machte einen weiteren Seitwärtsschritt. Das lebendige Nass wich vor der glühenden Spitze zurück. Twikus wollte schon aufatmen, als er plötzlich Schekiras warnende Stimme vernahm.
»Gebt Acht, Jungs! Das ist eine Falle!«
Nun erkannte auch Twikus die Gefahr. Die hoch aufgetürmte Mauerkrone war stehen geblieben. Dadurch hatte sich eine hohle Rinne gebildet. Jeden Moment drohte der Wellenkamm über ihm zusammenzuschlagen.
Er reagierte instinktiv. Sein rechter Arm riss das gläserne
Schwert nach oben, wo es sich in die Welle bohrte.
Ein grüner Blitz zuckte durch die singende Klinge. Das Licht ließ den kollektiven Leib der Formlosen erstrahlen. Ihr Zischen schwoll zu einem schmerzhaften Laut an. Auch Twikus schrie, ohne sich dessen bewusst zu sein.
Plötzlich verlor die Welle ihre Durchsichtigkeit. Sie wurde milchig weiß und warf das grüne Gleißen dadurch nur umso intensiver zurück. Das Zischen wurde rasch leiser, bis es fast völlig erstarb. Erschöpft ließ Twikus den Schwertarm sinken. Schekira landete zwischen den Ohren des Pferdes und
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