Mirad 02 - Der König im König
Vielleicht bekommen wir heute im Garten ja wieder unseren hübschen Nachtfalter zu sehen.«
»Nachtfalter?«
»Prinzessin Nishigo!« Die Augen des Posten verengten sich und er näherte sich seinem Gegenüber ungeachtet dessen Gestanks bis auf weniger als einen Schritt. »Sag mal, du kannst dem alten Uba doch nichts vormachen. Irgendwas stimmt nicht mit dir, Kundo. Hast du getrunken oder hat dir die Lauge aus der Waschküche das Hirn verätzt?«
Als wolle er seine Unschuld beteuern, breitete der falsche Kundo die Arme aus. Unvermittelt schoss unter seinem Umhang eine dritte Hand hervor und krallte sich um Ubas Hals.
»Du bist schlau«, zischte Kaguan ins Ohr des röchelnden Mannes. »Bisweilen ist das eine sehr ungesunde Eigenschaft.«
Das Herrscherhaus von Susan war eines der ältesten im ganzen Herzland. Wenn ein Land über so lange Zeit Macht ausübt, Eroberungsfeldzüge durchführt, mit benachbarten Reichen Handel treibt, sich mit ihnen verschwägert und Gastgeschenke austauscht, dann sammeln sich zwangsläufig allerlei Reichtümer an. In weiser Voraussicht hatte Lin-Gan, der erste Mazar, im Fels unter dem Palast – den man inzwischen den Alten nannte – eine Schatzkammer anlegen lassen. Während in den Gemächern und Sälen oben die Mazaren Hof hielten, horteten sie tief unten fortan alles, was einer besonderen Obhut bedurfte: Zepter und Kronen, Juwelen und Perlenketten, Pokale und Schatullen, unersetzliche Urkunden und Dokumente, missliebige Gelehrte und Thronräuber sowie einiges mehr.
Wie Kaguan wusste, stand die Bezeichnung »Schatzkammer« längst für eine ganze Flucht von nicht weniger als neunundneunzig aus dem Gestein herausgehauenen Räumen. Und in einem wurde das beschlagnahmte Kristallschwert aufbewahrt. Aber wo?
Nachdem er die zwei Posten im Abflussschacht der Waschküche zurückgelassen hatte, war er ungehindert bis zu den Gewölben unter dem Alten Palast gelangt. Seine Sorge, bei der Suche nach der einen Kammer kostbare Zeit zu verlieren, erwies sich glücklicherweise als unbegründet. Der Mazar war zu besorgt, um seine Neuerwerbung unbewacht zu lassen.
Vor einer erstaunlich schmalen Tür stand ein grober Holztisch. Drum herum saßen auf einfachen Schemeln vier offensichtlich bestens gelaunte Posten, die sich im flackernden Licht zweier Fackeln ihren Wachdienst mit einem Brettspiel verkürzten. Es wurde gelacht und gescherzt. Niemand bemerkte den Schemen, der die lange Wendeltreppe hinuntergeschlichen war und nicht mehr auffiel als ein großer Wassertropfen an der Wand. Als der Unsichtbare hinter seinem Rücken ein Schwert hervorzog, flog seine Tarnung auf. Aber da war es für die Hüter des Schatzes bereits zu spät.
Kurze Zeit danach lagen drei der Männer im eigenen Blut, während der vierte entwaffnet war und mit schreckgeweiteten Augen den Zoforoth anstarrte. Auf dem glatten Schädel des Wesens formte sich ein Gesicht, das der zitternde Posten als dasjenige eines Kameraden namens Tashido wiedererkannte.
»Wie lautet dein Name?«, fragte Kaguan.
»M-Manichi«, stotterte der Soldat. Er war der älteste seiner Gruppe, ein hagerer Mann mit hohlwangigem Gesicht, auf dem im Fackellicht unzählige Schweißperlen glitzerten.
»Öffne die Schatzkammer, M-manichi«, sagte Kaguan.
»Manichi.«
»Was?«
»Ich heiße Manichi«, erklärte der Posten in einer Mischung aus Furcht und Trotz. »Was den Zutritt zum Kronschatz betrifft, den kann ich Euch nicht verschaffen.«
»Kannst du oder willst du nicht?«
»Es gibt nur zwei Schlüssel: Den einen hat der Mazar und den zweiten der Oberste der Palastwache.«
Das Truggesicht des Zoforoths starrte den zitternden Mann ohne erkennbare Regung an. Schließlich murmelte er: »Ich glaube, du sprichst die Wahrheit.«
Manichi nickte eifrig. »Es ist genau so, wie ich gesagt habe.«
»Ja«, erwiderte Kaguan. Dann schlug er auch den vierten Hüter des Kronschatzes nieder.
Der Oberste der Palastwache stöhnte, als ihn die aufgeregte Stimme seines Adjutanten weckte. Koichi war gerade erst eingeschlafen. Seit dem Tod seiner Frau vor einem Jahr fand der Witwer nachts selten mehr als zwei oder drei Stunden Ruhe. Er gähnte ausgiebig. Plötzlich vernahm er das Läuten der Alarmglocke. Ächzend schlurfte er durch den Raum, öffnete die Schiebetür und blickte in Masakes verschwitztes Gesicht.
»Was ist denn los?«, brummte er. »Hat jemand die Kronjuwelen geraubt?«
»Das ist noch nicht sicher«, erwiderte der Adjutant.
Nach dieser
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