Mirad 02 - Der König im König
Antwort war Koichi endgültig wach. »Was soll das heißen, Hauptmann? Warum der Alarm?«
»Soeben ist Tashido von der Kohorte, die heute früh…«
»Meinst du, ich kenne meine Männer nicht? Sag endlich, was los ist, Masake!«, unterbrach der Oberste den Adjutanten scharf.
»Tashido meldet einen Überfall in der Schatzkammer.«
»Wie das? Er hat dienstfrei. Ebenso wie die übrigen Männer, die heute früh in der Schmiede der Bartarin gekämpft und das blutrünstige Gespenst vertrieben haben.«
»Der Chamäleone ist wieder da.«
Koichi riss die Augen auf. »Was sagst du?«
»Tashido berichtete, das Gespenst habe die vier Hüter des Schatzes niedergeschlagen und sei geradewegs durch die Felswand in das Gemach mit den Kronjuwelen eingedrungen…«
»Halt, halt«, ging Koichi abermals dazwischen. »So ein Unfug. Außerdem – woher will Tashido das wissen?«
»Er hatte ein verdächtiges Geräusch gehört und ist ihm nachgegangen. In der Schatzkammer fand er die vier Hüter. Niedergeschlagen. Manichi lebte noch und berichtete von dem Gespenst, das die Felswand durchschritten habe und kurz darauf wieder zurückgekommen sei. Es habe sich den Umhang eines der toten Kameraden angeeignet, darin mehrere Gegenstände eingewickelt und sei anschließend geflohen.«
»Was für Gegenstände denn? Soll das die ganze Meldung sein? Manichi muss doch gesehen haben, was der Dieb in den Mantel getan hat.«
»Er wollte es auch sagen. Aber Tashido meldete, er sei einfach mitten im Rapport gestorben.«
Koichi schüttelte ungläubig den Kopf, bekam einen glasigen Blick und murmelte: »Was für ein tragisches Ende! Muss den Weg ins Haus der Toten antreten, ohne seine Pflicht erfüllt…« Ein Ruck ging durch den Körper des Kommandanten und seine Stimme erlangte wieder die gewohnte Festigkeit. »Wir müssen sofort den Palastbezirk abriegeln! Niemand darf hinaus.«
»Das habe ich bereits veranlasst, Oberst Koichi. Der Alarm…«
»Ist ja nicht zu überhören. Gut gemacht, Hauptmann Masake. Dann lasst uns geschwind nachsehen, was der Chamäleone gestohlen hat.«
Kaguan hing in einem schattigen Winkel unter der Decke. Am Boden unter ihm lagen die vier erschlagenen Hüter und starrten mit leerem Blick zu ihm herauf. Als er das Schaben von Stiefelsohlen auf den Felsstufen und bald darauf die Stimme des Obersten der Leibwache hörte, jubilierte er innerlich. Rasch kontrollierte er noch einmal seine Tarnung. Die Schuppen seiner Haut gaben ein perfektes Abbild des Felsens wieder. Für menschliche Augen war er so gut wie unsichtbar. Hauptmann Masake betrat als Erster den Vorraum, gefolgt von zwei hoch gewachsenen Soldaten. Dann kam der Oberste der Palastwache. Hinter ihm stiegen vier weitere Hünen die Wendeltreppe hinab.
Der Schmerz im Armstumpf verleidete Kaguan das an sich amüsante Spiel. Normalerweise konnte er stundenlang wie eine Spinne kopfunter hängen und seine Beute beobachten. Hier jedoch spürte er bei jedem Atemzug ein bisschen mehr, um wie viel schwerer das Hangeln an Wänden und Decken mit fünf Gliedmaßen war als mit sechs. Er würde einen Gegner kein zweites Mal unterschätzen, nur weil er ein faltiges Gesicht hatte.
Koichi machte den Eindruck eines zähen alten Burschen. Seine knarrende Stimme stieß vermutlich selten auf Widerspruch. Er war nicht sehr groß, hatte einen ansehnlichen Wanst, aber gleichwohl bewegte er sich ohne die Steifheit, die man üblicherweise bei betagten Menschen beobachtete. An seiner Seite hing ein Schwert, dessen gebogene Form Kaguan an das verfluchte Zijjajim erinnerte.
Der Oberste der Palastwache verbrachte, während er sich an seinem dünnen Schnurrbart zupfte, einige Zeit mit der Leichenschau, bevor er sich endlich der Schatzkammer zuwandte. Er förderte unter seiner Bauchbinde einen langen Schlüssel zutage, steckte ihn ins Schloss, drehte ihn zweimal rechtsherum und zog am Haltering. Die Tür schwenkte quietschend auf.
Wieder ging Hauptmann Masake, in Begleitung zweier Leibgardisten, voran. Koichi und ein Paar weiterer Soldaten folgten ihnen in das Gemach, in dem eine ganze Dynastie susanischer Herrscher ihre Reichsinsignien aufbewahrt hatte und das seit wenigen Stunden einen ungleich bedeutenderen, von Mazar Oramas III. beschlagnahmten Schatz beherbergte. Zwei Posten blieben im Vorraum zurück und bauten sich vor dem Eingang auf.
Langsam bewegte sich Kaguan an der Decke entlang. Die beiden Fackeln, die in Eisenringen an der Wand hingen, schufen ein unruhiges Spiel aus Licht und
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