Mirad 02 - Der König im König
gespaltene Blatt drehte sich und blieb schließlich zitternd stehen.
»Also rechts«, murmelte er und machte sich von neuem auf den Weg. Hinter ihm blieben unbeachtet das von ihm geleerte Gefäß und das Gluttöpfchen im Eis zurück. Letzteres würde er bald vermissen.
Nach einer Weile stieg der Pfad am Grund der Gletscherspalte merklich an. Kurz darauf fand Twikus eine Stelle, die sich zum Hinaufklettern eignete. Über sie gelangte er endlich auf die andere Seite des Einschnittes und konnte seinen Weg zum Gipfel fortsetzen.
Während er durch Schneefelder stapfte sowie Eisschrunden und schlüpfrige Buckel überquerte, verlor er jedes Gefühl für die Zeit. Lag diese Benommenheit an dem Ungleichgewicht zwischen der gefühlten und der tatsächlichen Erschöpfung seines Körpers? Laugten ihn also schlicht die frostigen Temperaturen und das Klettern aus? Die Mahnung Múrias hallte aus den Tiefen der Erinnerung in sein Bewusstsein herauf: Wenn du dich übernimmst, fällst du tot um.
Er schüttelte mürrisch den Kopf. Bei der Eroberung der Sooderburg hatte er sich ganz anders gefühlt als jetzt. Wahrscheinlich betäubte die Kristallnadel seine Sinne? Obwohl das schwarze Ding wieder in der Manteltasche steckte, strahlte es nämlich nach wie vor Kälte aus. Diese hatte ihn anfangs nicht weiter gestört, war sie doch nicht schlimmer gewesen, als wenn man sich auf einen kühlen Stein setzte. Doch selbst ein solcher Platz kann auf die Dauer sehr ungemütlich werden. Ähnlich empfand Twikus, während er sich über Stunden hinweg immer höher hinaufkämpfte. Er ahnte, dass sein Unbehagen ohne Múrias Stärkungstrunk längst zur unerträglichen Qual geworden wäre.
Dann kamen auch noch die Wolken. Sie raubten ihm die Sicht und damit auch das Gefühl für den Raum. Unversehens fand er sich in einer Lage, die für einen Sirilo, dessen Geist sich in vier Dimensionen frei entfalten musste, kaum auszuhalten war. Trotzdem widerstand er der Versuchung, sich mit der Alten Gabe zu orientieren, und vertraute weiter auf die Ginkgonadel. Mehrmals setzte er sie noch auf die Dolchspitze, wartete geduldig, bis sie sich zitternd ausgerichtet hatte, und ließ sich sodann von dem Spalt im Blatt den Weg durchs Nirgendwo weisen.
Bei einer dieser Kursbestimmungen blieb die Nadel plötzlich stehen. Twikus tippte sie an, weil er fürchtete, sie könnte auf der Stahlklinge festgefroren sein. Aber sie ließ sich, wenn auch mit Kraft, zur Seite ablenken, nur um nach dem Loslassen sofort wieder in ihre vorherige Position zurückzuspringen.
Was ist jetzt los?, dachte er.
Prompt antwortete in seinem Geist die Stimme des Bruders: Wir haben das schwarze Schwert gefunden. Und damit vermutlich auch Magos.
Twikus wurde von einem eisigen Schauer geschüttelt, der ihn vorübergehend sogar die Kälte der Nadel vergessen ließ. Und was jetzt? Ich kann weder das eine noch den anderen sehen.
Möglicherweise sind der Gott und sein Schwert nicht auf, sondern in dem Berg. Ich schlage vor, du marschierst erst mal weiter. Vielleicht gibt’s oben einen Eingang.
Klingt vernünftig. Sicherheitshalber werde ich das gläserne Schwert bereitmachen.
Aber lass noch keine Kraft hineinfließen, damit …
… Magos uns nicht vorzeitig entdeckt. Ich bin ja nicht blöd.
Nachdem Twikus die Nadel wieder in der Tasche verstaut hatte, zog er die Handschuhe aus, öffnete den Mantel, um einerseits leichter an die in einem Köcher an seinem Gürtel hängenden Pfeile heranzukommen, und andererseits Zijjajim hervorzuholen. Er schlang sich das Schwert wie einen Leibriemen um die Brust. Anschließend legte er einen Pfeil auf die Bogensehne und setzte seinen Aufstieg fort.
Nach wenigen Schritten lichtete sich der Nebel. Er verspürte das dringende Bedürfnis, sich nach Múrias Art unsichtbar zu machen.
Probier gar nicht erst, dich unsichtbar zu machen. Dadurch würde dich Magos sehen wie ein Glühwürmchen in dunkler Nacht, sagte Ergil unvermittelt.
Twikus stöhnte. Habe ich so laut nachgedacht?
War gar nicht nötig. Ich kenne doch mein Bruderherz. Bleib einfach auf der Hut. Alles andere wird sich fügen.
Tolle Strategie!, zeterte Twikus, folgte aber trotzdem Ergils Rat.
Als er aus den Wolken herausstieg, lagen auch Schnee und Eis hinter ihm. Die Kälte jedoch blieb, schneidend von den Winden, die sein Gesicht geißelten, und betäubend von der Nadel in der Manteltasche. Als wolle die Sonne der bedrohlichen Situation eine heitere Note verleihen, lachte sie von einem fast
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