Mirage: Roman (German Edition)
der Sieben Siegel.« Koresh presste seine Hand auf die Seite der Heiligen Schrift. » Das ist die Fata Morgana. Eine Periode des Chaos und der Drangsal, während welcher die Welt sich auf den Kopf stellt und dann immer weiterkullert. Ich hatte mich getäuscht: Sie ist kein Richtspruch, sie ist Das Gericht , und meine Aufgabe ist nicht, einen Weg zurück aus dem Exil zu finden, sie ist, den Weg nach vorn zu bereiten, hin zum Jüngsten Tag. Die Siegel zu brechen und die Posaunen zu blasen und die Becher auszugießen.
Es wird grauenvoll sein«, sagte Koresh lächelnd. »Nicht jeder wird es durch den letzten Sturm schaffen. Dem Wachteljäger wird es nicht gelingen. Auch Saddam Hussein nicht, oder sonst einem der anderen wandelnden Toten … Doch diejenigen unter uns, die gesegnet sind, gewaschen im Blut des Lammes, sie werden sich nach dem Ende wiederbegegnen, in einer neuen Welt, der goldenen Stadt des Reichs Gottes.« Sein Lächeln vertiefte sich, und er blickte in die Weite, als könnte er das, wovon er sprach, strahlend an einem fernen Horizont sehen.
Irrer, dachte Mustafa, und er erinnerte sich an die Worte Leutnant Fahds. Diese Scheißkanaken. »Und was ist mit mir?«, sagte er.
»Ihnen?« Koresh blinzelte, zog sich aus seinem Wachtraum zurück. »Sie könnten noch immer zu retten sein. Jeder lebende Mensch ist noch zu retten, wenn er Christus akzeptiert.«
»Das ist erfreulich zu hören«, sagte Mustafa, »aber ich dachte eher an meine Rolle in Ihrer Apokalypse. Aus Ihrer Geschichte gewinnt man den Eindruck, die meisten Menschen, die sich auf die Suche nach Ihnen machen, würden entweder Sie nicht finden oder ein schlimmes Ende nehmen. Saddam erzählte uns, alle seine Späher seien verschwunden. Ich bezweifle, dass sie bekehrt wurden.«
»Ach so«, sagte Koresh. »Nein. Wir haben sie alle getötet.«
»Mich aber nicht«, sagte Mustafa. »Sie haben mein Leben verschont, um mich hierherzubringen und mir das alles zu erzählen. Warum?«
Koresh wirkte vorübergehend durch die Frage verdutzt. Dann zuckte er die Achseln und sagte: »Gott wollte es so. Er erklärt mir Seine Gründe nicht immer… Aber wenn ich raten sollte, würde ich sagen, Er hat Sie dazu ausersehen, die falschen Propheten des Ostens zu bekämpfen.«
»Die falschen Propheten?«, sagte Mustafa.
Koresh nickte. »Ich habe Ihnen ja gesagt, dass der Wachteljäger nicht der Einzige ist, der Amerikaner als Spielfiguren einsetzt. Arabien hat seinen eigenen bösen Fürsten.« Er zögerte. »Und dann ist da noch etwas. Erinnern Sie sich, dass ich Ihnen von der Expertengruppe in Crawford erzählt habe?«
»Der, die Informationen über die Artefakte sammelte?«
»Genau«, sagte Koresh, »um dabei zu helfen, die Liste der Verdächtigen einzuengen. Und natürlich führt das Spekulieren darüber, wer die Fata Morgana verursacht hat, zur Spekulation darüber, wie dieser Wer sie verursacht hat …«
»Natürlich.«
»Der Wachteljäger war nie wirklich an dem Mechanismus interessiert. Ich vermute, weil, wenn für jemanden Gewalt die Antwort auf alles ist, die einzige wirklich wichtige Frage ›Auf wessen Gesicht trample ich als Nächstes herum?‹ lautet. Aber die Mitglieder der Expertengruppe besaßen eine größere intellektuelle Neugier. Einer der Gruppe, ein Orientalist der Firma namens Hank Wessells, ließ sich etwas einfallen, das er ›die Wunderlampentheorie‹ nannte und das genau das ist, wonach es klingt: die Theorie, irgendwo in Arabien habe sich jemand etwas gewünscht, das die Welt veränderte.
Es war keine ernstzunehmende Idee – sie war nicht christlich –, aber Hank machte den Fehler, dem Wachteljäger trotzdem ein Memo darüber zu schreiben. Der Wachteljäger ging an die Decke.«
»Warum?«, sagte Mustafa. »Weil es eine ketzerische Theorie war?«
»Wahrscheinlich nahm der Wachteljäger an, Hank mache sich über ihn lustig«, sagte Koresh. »Das brachte ihn gewöhnlich auf die Palme. Oder vielleicht befürchtete er, dass – sollte die Theorie stimmen und wirklich nur ein anonymer Araber über eine Wunderlampe gestolpert sein – wir nie imstande sein würden, den Kerl ausfindig zu machen. Wie auch immer, der Wachteljäger feuerte seinerseits ein Memo ab, in dem er die Mitglieder der Expertengruppe davor warnte, Ressourcen an ›unproduktive Fragestellungen‹ zu verschwenden. Hank wurde in den Vernehmungstrakt bestellt und kam nicht mehr zurück. Danach war nie wieder von Wunderlampen die Rede.
Aber einige Zeit später erhielten wir
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