Mirage: Roman (German Edition)
haben, die über die vordere Mauer zu steigen versuchen.« Auf dem Weg nach draußen schaltete er eine zusätzliche Flutlichtanlage an.
Da war tatsächlich jemand: Direkt außerhalb des Tors war eine kauernde Gestalt gerade dabei, etwas am Fuß der Mauer zu platzieren. »He!«, brüllte der Gardist. »Keine Bewegung!« Aber die Gestalt sprang auf und verschwand wieder im Sturm. Der Gardist ging weiter voran, wie gebannt auf den Gegenstand starrend, den die Gestalt zurückgelassen hatte: eine Leinentasche mit einem blinkenden roten Licht an der Seite.
»Was soll das heißen, ›Nein‹?«, sagte Saddam. Er warf einen scharfen Blick auf Rammal, der die Arme flehentlich in die Höhe warf.
»Sei nicht zu streng mit deinem Zauberer«, sagte der Dschinn. »Sein Akkadisch ist gar nicht mal so schlecht. Vor ein paar Tausend Jahren hätte sein Bannritual vielleicht funktioniert. Aber ich fürchte, Sie haben beide nicht verstanden, was ich eigentlich bin.«
»Was du bist?«, sagte Saddam. »Ich habe dir gesagt, was du bist. Du bist mein Diener!«
»Einst einmal war ich das Eigentum von Königen«, wandte der Dschinn ein. »Aber während meiner langen Gefangenschaft hörte ich, von ferne, die Worte der Propheten: Ibrahims und Jesu und des Letzten von allen, Mohammed, Friede sei mit ihm. Inzwischen habe ich die Worte der Shahada gesprochen und bin Muslim geworden, und heidnische Hexereien haben keine Macht mehr über mich.«
»Das ist nicht wahr!«, sagte Herr Rammal. »Mein Zauber hat dich herbeigezogen! Er hat dich gezwungen, dich zu erkennen zu geben!«
»Den größten Teil der Arbeit hat mein Stolz erledigt.« Der Dschinn zuckte bedauernd die Achseln. »Aber es liegt kein Stolz darin, ein Sklave Saddam Husseins zu sein – und auch wenn ich langsam wirklich aufhören sollte, mir einzubilden, ich würde Gottes Pläne kennen, kann ich mir nicht vorstellen, dass der Allerbarmer wollte, dass ich einem so bösen Menschen diene.«
Saddam zitterte vor Wut. Er öffnete die Pistolentasche an seinem Halfter und zog einen riesigen Revolver. Noch während er den Hahn spannte, schwenkte er herum und zielte auf den Zauberer.
»Nein!«, schrie Herr Rammal. Dann donnerte die Waffe, und er kippte rücklings auf den sandbestreuten Fußboden.
Udai trat vor, die Augen auf den Dschinn geheftet. »Erlaube, dass ich dem hier wehtue, Vater«, sagte er. »Ich bringe ihn schon dazu, dass er macht, was du willst.«
»Klappe«, sagte Saddam. Er richtete die rauchende Mündung des Revolvers auf die Schläfe des Dschinns. »Ich könnte auch dich töten.«
»Das könntest du«, räumte der Dschinn ein. »Und wenn ich dann tot bin, muss ich vor Gott treten, der mich für alle Ewigkeit richten wird. Wessen Zorn sollte ich also mehr fürchten?«
Saddam fing wieder an zu zittern. Aber ehe er ein zweites Mal abdrücken konnte, gab es irgendwo draußen auf dem Gelände eine Explosion. »Was war das?«
Der Dschinn neigte den Kopf zur Seite, lauschte dem Wind. »Ein hochgewachsener Mann«, sagte er. »Edler alsdu, aber nicht minder böse. Er beabsichtigt, deinen gesamten Haushalt auszulöschen.«
Mehr Lärm: das Gebell von Sturmgewehren. Es schien aus mehreren Richtungen zu kommen.
»Al-Qaida«, sagte Qusai. Er hielt sich ein Funksprechgerät ans Ohr. »Sie haben das Haupttor gesprengt, und möglicherweise kommen sie auch noch vom Fluss her.«
»Du und du!«, sagte Saddam und zeigte mit dem Revolver auf zwei seiner Männer. »Ihr bleibt hier und bewacht mein Eigentum! Qusai, Udai, Abid und die Übrigen: mir nach!« Er trat hinaus auf den Korridor, der von den Schreien der Republikanischen Garde hallte.
Nachdem die anderen gegangen waren und sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, trat ein bleicher Tariq Aziz aus dem Schatten und stand händeringend über dem Leichnam des Zauberers. »Das ist nicht meine Schuld«, sagte er. »Ich habe nichts getan!«
»›Den Bösen will ich nicht kennen‹«, erwiderte der Dschinn.
»Ich kann mich einfach nicht an Sie erinnern«, sagte Mustafa. »Ich habe das Gefühl, dass ich es eigentlich müsste, aber ich kann es nicht.«
»Niemand erinnert sich an mich«, erwiderte der Captain. »Niemand außer Saddam weiß auch nur, wer ich bin. Das hat die letzten paar Jahre irgendwie schwierig gemacht …«
Sie hatten den Palast durch eine rückwärtige Tür betreten und dabei zwei weitere Gardisten überwältigt. Ihr Ziel war der umfunktionierte Gebetsraum, von dem Captain Lawrence durch Saddam während einer
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