Mirage: Roman (German Edition)
»Bint Zabiba« gleiten.
»Und jetzt?«, sagte Samir, nachdem sie die Barkasse vertäut hatten.
»Erinnerst du dich, wie die Halal damals, ’97, plante, hier eine Razzia durchzuführen?«, fragte Mustafa.
»Ich erinnere mich, wie der Richter uns den Durchsuchungsbefehl verweigerte, nachdem unser Informant in einem Betonmischer aufgefunden wurde.«
»Ja, aber davor, als die Mission noch in der Vorbereitungsphase war, habe ich mir die Baupläne und die Fotos von der Luftbildaufklärung sehr genau angesehen. Die Hauptzufahrt zum Anwesen ist da«, er zeigte auf das Gästehaus, »aber auf dieser Seite gibt es ein weiteres Tor, oberhalb einer Anlage, wo Boote zu Wasser gelassen oder herausgezogen werden – und Schnaps auf Lastwagen umgeladen wird. Das Tor ist nicht so streng bewacht, und damals war es nur mit einer Kette und einem Vorhängeschloss gesichert.«
Amal kramte schon im Werkzeugkasten der Barkasse. »Reicht das?«, sagte sie und hielt einen Bolzenschneider in die Höhe.
Sie legten ihre Schutzbrillen und Gesichtsmasken wieder an und gingen an Land. Das Tor war da, wo Mustafa gesagt hatte, aber anders als die Halal-Behörde hatte Saddam seine Sicherheitsvorkehrungen seit den Neunzigerjahren modernisiert. Über dem Tor war eine Überwachungskamera montiert worden, und das Tor selbst war jetzt eine massive Stahlplatte, von innen verriegelt und verschlossen.
»Wie wär’s mit über die Mauer steigen?«, schlug Amal vor, als sie sich im toten Winkel der Kamera zusammengekauert hatten. »Den Stacheldraht bekommen wir mit dem Bolzenschneider durch.«
»Die muss mindestens vier Meter hoch sein«, sagte Samir. »Hast du auch einen Enterhaken dabei?«
»Wenn wir ein paar Kisten oder so was aufeinanderstapeln, und ihr stellt euch darauf, könnt ihr mir einen Schubs geben.« Da sie das Schweigen der anderen eher als Ausdruck von Unbehagen als von Skepsis deutete, fügte sie hinzu: »Stellt euch einfach vor, ihr wärt meine Brüder.«
Keiner hatte eine bessere Idee, also schlichen sie die Kaianlage entlang und hielten nach Kisten oder Kästen Ausschau, die stabil genug wären, um ihr Gewicht zu tragen. Direkt hinter der »Bint Zabiba« fanden sie eine an einen Pfosten angekettete Mülltonne auf Rädern. Sie kappten die Kette und rollten die Mülltonne zum Tor zurück. Mustafa war der Größte von ihnen, also stellte er sich auf den Deckel der Mülltonne und half Amal, auf seine Schultern zu steigen. Samir blieb auf dem Boden und versuchte, die Tonne ruhig zu halten. Diese Zirkusnummer wäre selbst bei völliger Windstille schwierig gewesen und bei den aktuellen Witterungsverhältnissen eigentlich undurchführbar, aber der Wind zeigte sich seltsam kooperativ. Mehr als einmal merkte Amal, während sie sich reckte, um die Reihen von Stacheldraht zu durchschneiden, dass sie hintüberzukippen drohte, nur um von einer plötzlichen Bö wie von einer kräftigen Hand wieder gegen die Wand gedrückt zu werden. Sie arbeitete so schnell sie konnte. Als der letzte Draht gekappt war, ließ sie den Bolzenschneider zu Boden fallen und sagte: »Fertig!« Mustafa schob die Hände unter Amals Schuhsohlen und drückte fest nach oben. Dieses Manöver erwiessich als zu viel für den Deckel der Mülltonne, der unter ihm nachgab und ihn in Samirs Arme plumpsen ließ – aber als sie nach oben sahen, war Amal hinter der Mauer verschwunden.
Fünf lange Minuten später ging das Kontrolllicht der Überwachungskamera aus, und das Tor öffnete sich. Amal, jetzt mit einem Sturmgewehr bewaffnet, winkte sie hinein. Sie durchquerten einen kurzen Tunnel. Am anderen Ende befand sich ein Wachhäuschen, und darin lag ein Rep-Gardist, an Händen und Füßen mit Kabelbindern gefesselt und mit seiner eigenen Jacke geknebelt. Mustafa drehte sich um, wollte Amal etwas fragen, aber sie war schon vorgeprescht.
Sie hielten auf die Lichter des Haupthauses zu. Als sie fast die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatten, flaute der Wind nahezu vollständig ab, und sie hörten von irgendwo links das asthmatische Brüllen eines Löwen. Dem folgte ein anderes, leiseres, keuchendes Geräusch. Ein Rep-Gardist kam, nach Atem ringend, taumelnd aus dem Dunst hervor und fiel vor ihnen der Länge nach auf den Bauch.
Während Amal nach dem Löwen Ausschau hielt, beugten sich Mustafa und Samir über den Gardisten. Der Mann war nicht zerfleischt, er war erstochen worden. Eine selbstgebastelte Plastikklinge war ihm in den oberen Rücken gerammt worden, bis in die Lunge
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