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Mirage: Roman (German Edition)

Mirage: Roman (German Edition)

Titel: Mirage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matt Ruff
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Samir steckte seine Pistole wieder ein und blieb auf dem leeren Parkdeck stehen, die Augen auf den Schiffsfahrschein zu seinen Füßen gerichtet.
    Irrsinn, dachte er. Irrsinn. Wie daneben im Kopf muss der Kerl sein, um zu glauben, es gäbe auch nur die geringste Chance, dass ich Ja sage? Es ist nicht möglich. Es liegt nicht mal im weitesten Umkreis des Bereichs des Möglichen. Na ja, klar. Aber was, wenn … Was, wenn es – nicht in dieser, in irgendeiner anderen Welt – doch möglich wäre? Was, wenn das, oder irgendetwas Ähnliches, wirklich passieren und auch klappen könnte? Ha! Genau! Wenn nur … Wenn nur … Dann würde ich …
    Nein.
    Nein. Es war nicht möglich. Es war nicht einmal vorstellbar.
    So geht der Film nun mal nicht aus.
    Er fuhr mit der Linie 6 bis zur Endstation. Die letzte Haltestelle war oberirdisch, der Bahnhof stark mit Graffiti beschmiert und von grellen Neonröhren beleuchtet, die ihn weit heller machten als die Straße darunter, wo die meisten Laternen aus waren. Wie immer an diesem Punkt spielte Samir mit dem Gedanken, auf den anderen Bahnsteig zu wechseln und wieder heimzufahren, aber ohne Frau und Kinder, die auf ihn warteten, war der Gedanke eine reine Formsache.
    Er stieg zur Straße der Schatten hinab. Am Bordstein nahe der Bahnsteigtreppe war ein Haufen Müll in Brand gesetzt worden. Am Rand des Feuerlichts lungerten zwei Frauen in einer offenen Tür herum. Samir ging rasch an ihnen vorüber und versuchte dabei, das Gefühl der Unangreifbarkeit eines Polizisten, das er nicht einmal mehr annähernd verspürte, dennoch auszustrahlen. Im nächsten Block brannten weitere Haufen von Müll, und ebenso im nächsten. Erkam an weiteren offenen Türen vorbei, die jede den einen oder anderen Hinweis auf im Inneren lauernde Verderbtheit bot; vor einer Tür versuchte ein sehr minderjähriger Schlepper, sich an seinen Ärmel zu klammern, aber Samir riss sich los und beschleunigte seinen Schritt.
    Einen halben Kilometer vom Bahnhof entfernt bog er nach links in eine Sackgasse ein. Er machte sich dabei kampfbereit, denn manchmal lauerten dort Straßenräuber. Heute Nacht war die Gasse menschenleer. Er folgte ihr bis zum Ende, wo sie von einer schlichten Eisentür begrenzt wurde. Über der Tür ragte hinter einem Drahtgitter eine nackte Glühbirne aus der Wand, und daneben war eine Überwachungskamera montiert. Wie Samir wusste, war die Kamera nur dazu da, um vor etwaigen Polizeirazzien zu warnen, und deswegen normalerweise nicht auf Aufnahme eingestellt, aber trotzdem achtete er darauf, nicht nach oben zu schauen, als er an der Tür klingelte.
    Die Tür öffnete sich, und Samir trat ein, in sanftes rotes Licht und das Stampfen von Disco-Musik. Der Türsteher war neu. Er sah auf eine irgendwie zerklüftete Art gut aus – sein Kinn und seine Wangen waren rau, und er sah so aus, als hätte er sich beim Rasieren mehrmals geschnitten. Er lächelte Samir zu und nickte dankbar für den Zwanzig-Rial-Schein, den dieser ihm anbot. Nachdem er Samir eine Hand ins Kreuz gelegt und ihn freundlich hineingeschoben hatte, drehte er sich um und schloss und verriegelte die Tür.
    Ein Perlschnurvorhang trennte den Eingangsbereich vom eigentlichen Lokal. Als Samir ihn durchschritt, griffen weitere Hände von beiden Seiten nach ihm und packten ihn oberhalb der Ellbogen. Eiserne Fäuste umfassten seine Bizepse, stemmten ihn in die Höhe und warfen ihn mitten im Zimmer der Länge nach auf den Fußboden.
    Die Musik verstummte. Das Licht ging an. Samir stemmte sich auf die Knie und stand auf, noch von der Helligkeit geblendet. Das Lokal war entkernt worden. Der Tresen, dernoch vor drei Tagen die ganze rechte Wand eingenommen hatte, war weg, vollständig herausgerissen, und lediglich ein paar verbogene Nägel und Scherben von Spiegel- und Flaschenglas waren zurückgeblieben. Sämtliche Tische und Stühle waren gleichfalls verschwunden – außer einem Barhocker, der einsam in der Mitte des Raums stand und auf dem wie ein dunkeläugiger Raubvogel ein Mann hockte.
    Zumindest seine Identität stellte keine Überraschung dar.
    »Idris.« Samir stieß einen Seufzer aus, zunächst eher verdutzt als verängstigt, da irgendein Teil von ihm sich noch an die Hoffnung klammerte, das Ganze sei nur ein böser Traum. Er drehte sich um, um zu sehen, wer ihn zu Boden geworfen hatte. Da waren vier Typen, alle mit zerklüfteten Gesichtern wie der Türsteher, aber bärtig. Sie standen in einer Reihe nebeneinander und versperrten ihm den

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