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Mirage: Roman (German Edition)

Mirage: Roman (German Edition)

Titel: Mirage: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Matt Ruff
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wenig kooperativen Einstellung, sympathisch fand. »Dann im Geist von Gottes Gnade«, sagte er, »können Sie uns wenigstens mit Sicherheit sagen, ob der Lieferwagen schon abgefahren ist?«
    Der Mann sah ihn säuerlich an, aber da Mustafa höflich gewesen war, ließ er sich erweichen. »Das könnte ich wohl, ja … Wissen Sie, wohin das Paket unterwegs ist?«
    »Nach al-Azamiyya«, antwortete ihm Mustafa. »In die Republik von Saddam.«
    Amal befand sich währenddessen im Vorzimmer des Bagdader Büros ihrer Mutter. Die Senatorin war vergangenen Abend aus Riad hergeflogen, um an einer Benefizveranstaltung teilzunehmen, und musste noch am selben Nachmittag wegen einer wichtigen Abstimmung wieder in der Hauptstadt sein. Sie hatte für ihre Tochter eine Viertelstunde aus ihrem Vormittagszeitplan abgezwackt, aber wie üblich verspätete sie sich.
    An der Wand gegenüber dem Stuhl, auf dem Amal saß und wartete, hing das obligatorische Einheitsporträt von Gamal Abd el-Nasser. Dieses ikonische Bild war, was Tante Nida privatim immer als das »Prä-Anschlagsfoto« bezeichnet hatte. Wenn Nasser nur den Anstand besessen hätte, Anfang der Sechziger zum Märtyrer zu werden, sagte Nida, wäre der Partei die Peinlichkeit seiner zweiten Präsidentschaft erspartgeblieben: die Skandale, die zahlreichen Fälle von Machtmissbrauch, das sich ewig hinziehende Amtsenthebungsverfahren, das der Partei Gottes wieder Auftrieb gegeben und die progressive Agenda um Jahrzehnte zurückgeworfen hatte. Aber Peinlichkeit hin oder her – Nasser war der Parteipatriarch, und ihm musste Respekt gezollt werden.
    Rechts neben Nassers strahlender Visage hing, fast ebenso groß, ein Abzug von »dem Moment«. Auch an den übrigen Wänden des Zimmers waren Szenen aus Leben und Laufbahn ihrer Mutter zu sehen, zum Teil auch welche, in denen sie selbst, Amal, vorkam. Sie hatte ihren Sitzplatz so ausgesucht, dass sie nicht gezwungen war, die schmerzlichste Szene betrachten zu müssen: ein Foto, das ihre Eltern bei ihrer feierlichen Vereidigung zur ABE-Agentin zeigte.
    Ihr Vater hatte nicht damit gerechnet, dieses Ereignis noch miterleben zu können. Wäre Saddam Hussein ein echter König gewesen, dann hätte er das auch mit Sicherheit nicht. Aber Saddam war nur ein König der Unterwelt, und selbst der gemeingefährlichste Bandenchef konnte nicht ungestraft einfach so Polizeihauptkommissare abschlachten. Was nicht heißen sollte, dass er vergeben und vergessen hätte. Von den Männern, die sich zusammen mit Shamal aktiv für Reformen eingesetzt hatten, kamen vier später bei verdächtigen Unfällen ums Leben. Sechs weitere gerieten – schuldlos, wie alle sagten – selbst in einen Korruptionsskandal; drei von diesen begingen Selbstmord, einer tauchte in Europa unter, und die verbleibenden zwei wurden im Gefängnis ermordet.
    Shamal schaffte es durch eine Kombination aus Vorsicht, Glück und Gottes Gnade, sowohl Unfällen wie einer Anklage zu entgehen, doch innerhalb der Polizeitruppe wurde er zu einem Paria, einem Gezeichneten, dem niemand zu nahe kommen wollte. Die ständige Anspannung nagte an ihm; bei Amals feierlicher Vereidigung war sein Haar bereits grau, und sein Gesicht war faltig und verhärmt.
    Vier Monate später war Shamal auf dem Weg zur Arbeit zufällig Zeuge eines Einbruchs geworden. Zwei Männer, die einen Fernseher aus einem Haus schleppten, dessen Eigentümer im Urlaub war, wurden von einer älteren Nachbarin auf der Straße aufgehalten. Shamal fuhr gerade in dem Moment vorbei, als einer der Einbrecher der Frau einen Rückhandschlag verpasste. Er brachte den Wagen mit kreischenden Reifen zum Stehen und sprang mit gezückter Pistole hinaus. Die Einbrecher zogen ihrerseits ihre Waffen. Shamal tötete beide, wurde aber selbst mehrmals getroffen und starb noch auf dem Weg ins Krankenhaus.
    Was anfangs wie eine ungeplante Tragödie erschienen war, erhielt einen bedrohlicheren Beigeschmack, als sich herausstellte, dass die zwei Einbrecher aus Tikrit stammten, Saddams Geburtsstadt. Als Amal dann die Nachbarin, die den Einbrechern ins Gehege gekommen war, ein zweites Mal befragen wollte, konnte sie sie nicht finden. Andere Nachbarn gaben an, sie sei weggezogen, konnten aber nicht genau sagen, wohin – manche sagten, nach Jordanien, manche sagten, nach Kuwait. Manche sagten, nach Mauretanien.
    Amal forderte das »Büro« auf, eine offizielle Untersuchung des Todes ihres Vaters einzuleiten, doch ihr Antrag wurde abgelehnt. Ihre Vorgesetzten sahen zwar

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