Mirage: Roman (German Edition)
der Nacht, nachdem er die Neuigkeit erfahren hatte, träumte Samir, dass er vor einem Geschworenengericht ins Kreuzverhör genommen wurde. Der Untersuchungsbeamte – der eine gewisse Ähnlichkeit mit seinem alten Grundschulerzfeind Idris Abd al-Qahhar aufwies – wollte wissen, warum er noch immer ledig sei. »Ihr bester Freund hat zwei Frauen«, sagte der Untersuchungsrichter, »während Sie nicht mal eine haben. Was ist des Rätsels Lösung? Welchen Defekt verheimlichen Sie?« Samir schaute hinüber zur Bank der noch nicht aufgerufenen Zeugen und sah Asriya, deren Augen voll geheimen Wissens waren. Er wachte nach Luft schnappend auf.
Am nächsten Tag traf er Najat im Fahrstuhl und fragte sie, ob sie noch immer mit dem Gedanken spiele zu heiraten.
Eine Woche vor Samirs und Najats Hochzeit führte die Halal eine Haussuchung in der Wohnung eines Buchhalters in al-Azamiyya durch. Der Buchhalter, der unklugerweise beschloss, sich mit den Agenten, die seine Tür eingeschlagen hatten, anzulegen, überlebte nicht, aber sie schafften es immerhin, seinen tragbaren Rechner intakt in die Hände zu bekommen.
Wieder in der Zentrale, brauchte Isaak eine geschlagene halbe Stunde, um das Passwort des Rechners zu erraten – es war der Name des Vaters des Buchhalters, gefolgt von dem seiner Mutter, gefolgt von seinem eigenen Geburtstag, rückwärts geschrieben –, und eine weitere Stunde, um die Dateien zu sichten. Mittlerweile waren die meisten anderen Agenten zu einer Post-Razzia-Feier ausgegangen; nur Samir, der dazu verdonnert worden war, ein paar weitere konfiszierte Gegenstände als Beweismittel zu registrieren, war noch da.
»Was ist los?«, fragte Samir, als Isaak aus seinem Büro herauskam und er seinen Gesichtsausdruck sah. »Erzähl mir nicht, du hast die Verschlüsselung nicht geknackt gekriegt.«
»Doch, doch, ich bin reingekommen«, sagte Isaak. »Ich habe eine Liste von Schmiergeldzahlungen an Angehörige der Bagdader Polizei gefunden – darunter diesen Streifenbeamten, den du im Ghazi-at-Tikriti-Mord verdächtigst.«
»Na, das ist doch toll, Mann! Warum dann das lange Gesicht?«
Isaak zog sich einen Stuhl neben Samirs Schreibtisch heran. »Ich habe auch eine andere Datei gefunden«, sagte er. »Schmiergeldzahlungen an Bundesagenten. Einschließlich welche von der Halal.«
»Ah«, sagte Samir und verspürte das gleiche nervöse Flattern wie immer, wenn das Thema Korruption angesprochen wurde. Er hatte sich zwar noch nie bestechen lassen, aber wie jeder andere Halal-Beamte auch hatte er gegen andere Gesetze verstoßen – von den Waren der Alkoholschmuggler gekostet, die sie festnahmen, ab und an eine Flasche mit nach Hause genommen oder, wenn sie Bargeld fanden, auf dem Weg in die Asservatenkammer ein paar Scheine abgezweigt. Tatsächlich saß er momentan auf fünfhundert Rial, die sich noch vor ein paar Stunden im Wandtresor des toten Buchhalters befunden hatten. Ein kleiner Hochzeits-Bonus. »Also, wer steht auf der Liste?«, fragte er Isaak. »Jemand, den ich kenne?«
»Gott sei Dank niemand von unserem Team«, sagte Isaak. »Aber du kennst Habib Murad?«
»Ja, klar.« Habib arbeitete ein Stockwerk über ihnen, in der für die Führung von V-Leuten zuständigen Abteilung. Samir kannte ihn sogar sehr gut – und nicht nur beruflich.
Isaak fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. »Das ist mir scheißzuwider. Ich verpfeife keinen Kollegen, klar? Und es ist nicht so, dass ich selbst eine blütenreine Weste hätte. Bei Kleinigkeiten schaue ich liebend gern weg.Aber wenn jemand in der V-L-Abteilung Geld von Saddam nimmt, könnte es jemanden das Leben kosten. Bei Mord kann ich nicht wegschauen.«
»Nein«, sagte Samir. »Natürlich nicht.«
»Genau, natürlich nicht.« Isaak lachte, seufzte dann. »Also schön«, sagte er und stand auf, »dann gehe ich die Meldung machen, bevor mich mein Mut verlässt.«
Samir sah ihm nach. Dann stand er ebenfalls auf und machte sich auf die Suche nach einem Münztelefon.
Am darauffolgenden Abend hielt Samir auf dem Heimweg an der Halle, in der die Hochzeitsfeier stattfinden würde, um einen Scheck abzugeben. Gerade als er wieder ins Auto einsteigen wollte, bremste Habib Murad neben ihm und bedeutete ihm mit einer Geste, ihm zu folgen.
Sie fuhren zu einem Parkhaus in der Nähe. Habib fuhr bis zum obersten Parkdeck, das zu dieser Uhrzeit wie ausgestorben war. Als er den Motor abstellte und die Tür öffnete, kam Samir bereits um den Wagen herum. Er zerrte Habib am
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